Wie ich meine Mama verlor – und ein Wunder erlebte
Ich halte den kleinen Chip vor die Stempeluhr und warte für einen Moment. Es piept und ich darf gehen. Ein herrliches Gefühl, besonders dann wenn man etwas geschafft hat. Mein Arbeitstag war super und ich freue mich schon auf den nächsten. Ich verlasse das Gebäude und gehe so schnell ich kann zu Lucy (so heißt mein Auto) und frage mich, was ich heute noch alles machen kann.
Auf mein Smartphone habe ich schon eine Weile nicht geschaut. Zu konzentriert war ich in den letzten Stunden gewesen. Ich habe ein paar neue Nachrichten und freue mich. Bestimmt wird heute noch ein guter Tag.
Und dann sehe ich die WhatsApp Nachricht: ‘Hallo Kinder, jetzt müsst ihr stark sein. Mama liegt im Krankenhaus. Hat versucht sich das Leben zu nehmen.’
Ich bleibe stehen und lese die Nachricht noch mal.
Und noch mal.
Und dann noch mal.
Alle guten Gefühle, die ich noch wenige Sekunden vorher hatte sind plötzlich dahin. So als seien sie hinter einer dicken Scheibe aus Milchglas verschwunden. Stattdessen ist es als sei meine Seele ganz leer.
Nichts ist mehr wichtig.
Nichts, was nur wenige Sekunden vorher noch so relevant schien, spielt jetzt noch eine Rolle. Aus ganz rationaler Sicht, und ohne etwas zu spüren, weiß ich, wohin es jetzt für mich geht.
Ich muss dringend Papa erreichen. Ich versuche es am Handy und erfahre schnell, dass Mama im Bethesda Krankenhaus auf der Intensivstation liegt. Die Besuchszeit ist längst vorbei, doch das ist mir egal. Ich steige ins Auto und drücke aufs Gas. Meine Gedanken und Handlungen scheinen nichts mehr miteinander zu tun zu haben.
Kuppeln, Gang einlegen, Blinken, Gas geben – alles scheint automatisch zu passieren. Als sei ich nur Beifahrer. Und gegen die Tür zu meinem Bewusstsein drängeln etwa hundert verschiedene Gefühle und wollen rein. Doch ich halte sie zurück – noch.
Das Krankenhaus ist nur drei Minuten von meiner Arbeitsstelle entfernt. Ich kann mich gar nicht daran erinnern geparkt zu haben, doch aus irgendeinem Grund stehe ich vor der Dame an der Rezeption.
Sie ruft in der Station an und ich darf trotzdem noch rein.
In Krankenhäusern verlaufe ich mich immer. Ständig sogar. Doch dieses Mal darf das nichts passieren, denn ich muss meine Mama sehen. Glücklicherweise finde ich den Weg (oder zumindest der David, der im Moment die Steuerung meines Körpers übernommen hat). Dann wird mir geöffnet und ich sehe meine Mama da liegen.
Ihre Augen sind geschlossen und ein Schlauch steckt in ihrer Luftröhre. Außerdem sind da noch etwa hundert andere Dinge an ihr angeschlossen. Es piept in regelmäßigen Abständen. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich wie ein Blasebalg. Doch das liegt nur an der Beatmungsmaschine, nicht weil sie noch selber in der Lage wäre zu Atmen.
‘Oh mein Gott Mama, doch nicht schon so früh’, denke ich und starre sie fassungslos an. Ein Pfleger erklärt mir, sie habe eine große Menge an Antidepressiva und Schlaftabletten genommen. Viel zu viele. Und jetzt liegt sie im Koma und niemand kann wissen ob sie noch einmal aufwachen wird. Ich setze mich auf einen Stuhl neben ihr Bett und halte ihre Hand. Papa war schon hier, doch wird er gleich zusammen mit Debby zurückkommen. Ich will hier jetzt nicht so alleine sein.
Als sie eintreffen sitzen wir einfach nur um ihr Bett. Selten sagt jemand etwas, doch wenn doch, dann reden wir mit ihr. Mit der Mama, die ich jetzt 27 Jahre kenne und die uns alle so sehr geliebt hat.
Sie hat es nie leicht gehabt. War immer schwach und konnte nie das tun, was sie wirklich wollte. Fast immer war sie nur zu Hause und wenn es ihr mal gut gegangen war und wir als Familie einen Ausflug machen konnten, so war das für sie immer das größte Glück.
Wie oft war Mama stark gewesen, wenn wir Kinder es nicht waren? Wie oft hatte sie mich getröstet, wenn etwas bei mir schief gegangen war? Und wie oft hatte sie sich selbst zurück genommen, nur damit es uns gut ging?
Doch jetzt war das alles plötzlich umgekehrt. Wir waren diejenigen, die stark sein mussten und Mama hatte sich dazu entschieden dieses Leben hinter sich zu lassen. Hatte es ohne Vorwarnung getan und ganz alleine. Niemand war bei ihr als sie diese Entscheidung getroffen hatte und keiner hatte ihr in dieser Krankheit helfen können.
Diese Gewissheit zerreißt mein Herz und ich kann nicht glauben wie aussichtslos diese Situation ist.
Irgendwann müssen wir nach Hause fahren. Ich muss jetzt einige Dinge klären. Auf der Arbeit Bescheid geben, mit den Großeltern reden, telefonieren. Und ich habe Angst davor in dieser Nacht alleine zu sein. Mit der Gewissheit, dass einer der wichtigsten Menschen meines Lebens gerade im Sterben liegt.
Die Nacht verbringe ich in Embryostellung auf meinem Bett. Schlafen ist nicht, stattdessen lese ich Bibel. Schon verrückt, wie sehr einen dieses Buch trösten kann, auch wenn man vieles, was drin steht gar nicht mehr glaubt. Ich lese immer wieder Psalm 139 – das war Mamas liebste Stelle.
Erst früh am morgen schlafe ich etwas und nach dem Aufwachen fühle ich mich für drei Sekunden normal.
Dann erst begreife ich, was passiert ist und bekomme kurz keine Luft mehr. Die Versuchung ist groß einfach liegen zu bleiben und alles zu ignorieren, doch das geht natürlich nicht. Aufstehen, Zähne putzen, Frühstück ausfallen lassen und mit Papa zurück ins Krankenhaus fahren.
Im Laufe des Tages versagen ihre Nieren und die Ärzte pumpen Unmengen an Flüssigkeit in sie herein in der Hoffnung auf eine Dialyse verzichten zu können. Und obwohl die ganze Zeit entweder Papa oder Deborah bei mir sind, fühle ich mich schrecklich einsam. Es ist ein grässliches Gefühl nichts tun zu können, doch wenigstens vergeht die Zeit mit normaler Geschwindigkeit. Und sobald ich ihr Zimmer verlasse scheint alles so normal.
Vögel hüpfen draußen auf dem Parkplatz herum und jeder geht seinem Alltag nach. Doch Mama bekommt von all dem nichts mehr mit.
In der folgenden Nacht ist alles noch viel schlimmer. Ich habe inzwischen herausgefunden, wie Weinen geht (ich hatte es glaube ich verlernt) und liege die ganze Zeit in verschiedenen Positionen auf meiner Matratze herum. Manchmal falle ich in einen Halbschlaf und stelle mir vor, wie es wäre wenn Mama mit einem schweren Hirnschaden wieder aufwachen würde. Unfähig sich zu bewegen, doch bei vollem Bewusstsein. Ich komme auf ganz merkwürdige Gedanken und dann lese ich wieder Psalm 139. Morgens habe ich Halsschmerzen, weil ich so viel geweint habe. Doch aufzustehen tut gut.
Mit Papa fahre ich wieder ins Krankenhaus und hier geschieht etwas Neues. Einer der Ärzte kommt uns entgegen und schon sein Gesichtsausdruck lässt auf nichts Gutes schließen.
“Der Darm Ihrer Frau ist seit dieser Nacht nekrotisch. Mit einer Dialyse könnte man sie zwar noch am Leben erhalten, doch das liegt jetzt bei Ihnen.”
Uns beiden ist vollkommen klar, was jetzt die richtige Entscheidung ist. Mama noch länger in dem Leben behalten zu wollen, in dem sie so unglücklich war, wäre purer Egoismus. Wir müssen sie jetzt gehen lassen.
Papa stimmt zu ihr Morphium zu verabreichen, damit das Sterben leichter wird. Und als wir den Raum betreten geschieht etwas Überraschendes.
Plötzlich spüre ich, wie meine Seele zur Ruhe kommt. Seit drei Tagen tobte ein Sturm in mir, doch jetzt, wo ich Abschied nehmen muss, wird es plötzlich leichter. Ich kann das kaum glauben. Das genaue Gegenteil hatte ich erwartet. Doch Mama scheint mich sogar im Tod noch trösten zu können. Wir verbringen noch einige Stunden an ihrer Seite. Papa ließt ihr aus der Bibel vor und immer wieder erzählen wir ihr von alten Erinnerungen. Von Dingen, die wir gemeinsam gemacht haben und die uns wichtig sind. Auch von Dingen, die uns genervt haben und die Mama bis heute nicht gelernt hatte. Ich versuche mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal mit ihr gesprochen habe, doch ich weiß es einfach nicht mehr. Und schon wieder muss ich weinen, halte ihre Hand und lege meinen Kopf auf ihre Decke. Doch dieses Mal trösten mich meine eigenen Tränen und es ist als sei noch jemand im Raum, der uns Frieden gibt, und der uns zuflüstert, es sei okay so.
Und plötzlich ist es okay. Plötzlich wehrt sich nichts mehr in mir gegen die Vorstellung meine geliebte Mama zu verlieren. Plötzlich habe ich ganz viel Frieden und Kraft sie gehen zu lassen. Das ist ein echtes Wunder. Vielleicht das erste, was mir im Leben je passiert ist. Und Papa geht es genauso.
Unter Tränen sagen wir Mama, dass sie gehen darf. Dass wir ihre Entscheidung annehmen und ihr nicht böse sind. Sie hat ihren Weg gewählt und das durfte sie auch. Wir werden ihr nie einen Vorwurf daraus machen.
Mittags gehen Papa und ich raus und machen eine kurze Intensivstation-Pause. Das dürfen wir, denn Deborah ist jetzt auch da und singt Mama mit einer Gitarre Lobpreislieder vor.
Im Wald ist es ruhig und ich starre die meiste Zeit vor mich hin. Ich denke darüber nach, wie mein Leben wohl ohne Mama weiter gehen wird und habe plötzlich den Eindruck viel älter geworden zu sein. Viel erwachsener und unabhängiger. Doch einsam fühle ich mich auch.
Ich halte die Einsamkeit aus und kehre nach einiger Zeit zurück ins Krankenhaus. Lukas ist hier und auf einer Bank erzähle ich ihm, was geschehen ist. Während wir sprechen klingelt mein Handy. Deborah ist dran.
„Mama ist gerade gestorben“.
So schnell ich kann haste ich auf die Intensivstation. Papa weiß schon Bescheid und ist jetzt auch auf dem Weg. Deborahs Freundin spielt leise auf einer Gitarre und der ganze Raum ist voller Frieden. Ein Pfleger ist gerade dabei alle Schläuche zu entfernen. Mama sieht furchtbar alt aus. Nicht mehr wie 57. Vielmehr wie eine alte Frau über 90.
Mama ist nur wenige Sekunden gestorben, nachdem auch Debby sich verabschiedet hatte. Das kann einfach kein Zufall sein. Es ist Freitag kurz nach drei Uhr. Interessant, dass sie sich genau diesen Zeitpunkt und Tag zum Sterben ausgesucht hat. 😉
Kurze Zeit später ist Papa da und wir haben noch etwas Zeit bevor unsere Großeltern, Tanten und Onkel hier auftauchen. Jetzt gibt es also kein Zurück mehr. Ich werde nie wieder mit ihr sprechen, mit ihr Lachen oder ihr von meinem Leben berichten. Nie wieder wird sie mich wegen irgendeiner Banalität nerven oder mir eine doofe Computerfrage stellen, wenn es gerade gar nicht passt. Nie wieder werde ich etwas essen, was sie gekocht hat oder ihr einen Blumentopf durchs Haus tragen. Und was würde ich jetzt dafür geben auch nur eine dieser Dinge noch einmal für sie tun zu können?
Nie wieder.
Zwei Worte, die mir Angst einjagen. Doch trotzdem ist da dieser irrationale Friede in meinem Herzen, den ich mir beim besten Willen nicht erklären kann. Fast so als hätte Mama zwischen Himmel und Erde einem Engel befohlen uns Trost zu schenken.
Als der Rest unserer Familie auftaucht, nehmen wir alle gemeinsam Abschied. Es ist schwer und tut entsetzlich weh. Nicht nur Mama zu verlieren, sondern auch den Schmerz aller anderen mitzuerleben. Meine Großeltern tun mir am meisten Leid. Die eigene Mama zu verlieren ist naturgemäß. Ein Kind zu verlieren ist nicht so vorgesehen.
Doch erfahre ich durch unsere Familie auch unglaublichen Trost. Wir versammeln uns bei Oma und Opa und die Gemeinschaft ist so stark, so unzertrennlich, wie ich es selten erlebt habe. Verrückt, wir können sogar gemeinsam lachen. Über Dinge, die Mama gemacht hat oder über Dinge, die sie jetzt gesagt hätte. Und immer noch habe ich über allem Friede. Der hoffnungslose Horror der letzten Tage scheint vorerst hinter mir zu liegen. Trotzdem habe ich Angst vor der Nacht.
Deborah kommt mit uns nach Hause und schläft im Nebenzimmer. Es ist toll, wie sehr wir uns gegenseitig trösten können. Ich weiß nicht, was ich ohne sie machen würde. Ich lege mich ins Bett und warte auf einen erneuten Horrortrip. Auf das grässliche Gefühl der vergangenen Nächte und die große Hoffnungslosigkeit. Doch je länger ich wach liege und warte, desto intensiver erlebe ich Frieden. Ich schalte das Licht an und schaue mich im Raum um. Es ist als sei noch jemand hier. Jemand, der schon da war seit Mama gestorben ist. Jemand der Lagerhäuser voll Frieden zu haben scheint und sie in immensen Mengen über mir ausschüttet. Ich spüre es in meinem ganzen Körper. Überall. Es ist so intensiv, dass ich es kaum aushalten kann. Als würde jede meiner Zellen mit Licht gefüllt. Sowas ist mir noch nie passiert.
„Danke“, flüstere ich (zu wem auch immer). Dann schlafe ich ein.
In den nächsten Tagen folgten die normalen Prozeduren. Grußkarten á la masse, Vorbereitungen für die Beerdigung, Kondolenzwünsche entgegen nehmen. Das meiste erledigt Papa. Deborah gestaltet die Karte und ich bin fast jeden Tag bei Oma und Opa (oder kurz: „Ompa“ :). Besonders meine Tante Addi und Oma weinen in dieser Zeit sehr viel. Zwischendurch spielen wir zusammen oder essen etwas.
Eine Woche nach Mamas Tod folgt eine Trauerfeier. Hunderte sind dort und wir erleben eine unglaubliche Fülle an Mitgefühl und Anteilnahme.
Jeden Tag befürchte ich den inneren Frieden über Mamas Tod wieder zu verlieren, doch er bleibt. Hilft mir durch all die schweren Dinge. Die Beisetzung findet im engsten Familienkreis statt. Danach gibt es Kaffee und Kuchen bei Ompas.
Doch jeden Morgen, den ich erwache ist der Friede noch da. Und das ist ein großes Wunder für mich. Wer mich kennt, der weiß, wie skeptisch ich Wundern gegenüber stehe. Ich bin ein rationaler Mensch. Ich liebe Logik und Dinge, die ich verstehen kann. Aber seit meine Mama gestorben ist glaube ich doch wieder an etwas. Ich weiß nicht genau an was, doch vielleicht gibt es ja doch ein Leben nach dem Tod. Vielleicht hat das alles hier auf der Erde doch einen Sinn? Vielleicht ist unser Planet doch nicht so seinem Schicksal überlassen, wie es meistens scheint. Ich habe keine Ahnung, doch Mama war sogar im Sterben noch ein Zeugnis für ihren festen Glauben an Jesus und die Bibel.
~
Monate später ist heilig Abend. Das erste Weihnachtsfest ohne Mama. Nach einem langem Essen und einer schönen Zeit gehe ich zu Bett und habe einen Traum:
Wir alle sind als Familie bei Ompas versammelt. Sogar meine Tanten und Onkel sind da. Unvermittelt taucht Mama auf. In diesem Moment weiß ich genau, dass ich träume.
„Wenn ich gleich aufwache“, denke ich, „so werde ich mich nicht total verarscht fühlen, denn ich weiß jetzt schon, dies hier ist nicht real.“ Mama kommt auf uns zu und alle sind total perplex. Meine Tante springt auf und klatscht in die Hände. Keiner kann fassen, dass Mama hier ist. Sie lächelt und sieht unglaublich glücklich aus. Nicht mehr so depressiv, wie sie es oft gewesen ist. Und auch nicht krank. Doch trotzdem erkenne ich sie. Ich darf sie in den Arm nehmen und sie sagt: „Ich bin noch einmal zurück gekommen, um Dir zu sagen, wie gut es mir jetzt geht. Vermutlich musst Du erst selbst sterben, um zu sehen, dass ich immer recht hatte.“ Ich nehme sie noch einmal in den Arm und dann wache ich auf.
Erneut kann ich kaum glauben, was gerade passiert ist. Habe ich das gerade wirklich geträumt? Das ist ja fast wie in so einem mega kitschigen frommen Film, wo am Ende alles gut aus geht und noch Hundebabies geboren werden oder so ein Unfug ^^.
Aber meine Erinnerung an den Traum ist solide.
Versteht mich nicht falsch: Ich glaube nicht, dass meine Mama wirklich noch mal zurück gekommen ist. Mit Träumen kenne ich mich inzwischen schließlich besser aus als die meisten Menschen. 🙂 Doch dennoch nehme ich den Traum als das schönste Weihnachtsgeschenk was man mir hätte machen können.
~ Mama, ich werde Dich so sehr vermissen ~