Die Bulldogge auf seinem Schoß fühlte sich wie eine faltige, undichte Wärmflasche an. Undicht deswegen, weil Curly nicht immer in der Lage war, die Kontrolle über seine Blase zu behalten. Und faltig deswegen, weil der Hund schon fast elf Jahre auf dem Buckel hatte und somit schon mit beiden Forderpfoten im Grab stand. Jedenfalls sagte Papa das immer so, der mit zusammen gekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe spähte, und versuchte die aufpeitschende Gischt aus Regenwasser mit seinem Blick zu durchbohren.
Tom legte behutsam seine Hand auf Curlys Kopf und kraulte ihn hinter den Ohren. Doch der Hund schien kaum Notiz davon zu nehmen. Überhaupt schien er in den letzten Wochen von gar nichts mehr so richtig Notiz zu nehmen. Schon in den vergangenen Jahren hatte er meistens auf seiner Decke gelegen und alle Geräusche oder Befehle ignoriert.
Lediglich der saugende Ton der Kühlschranktür ließ ihn mehrfach am Tag ein Ohr heben und wenn kurz darauf das Surren des Dosenöffners durchs Haus schallte, stemmte Curly sich mühsam auf die Beine und trottete mit schlabbernder Zunge in die Küche.
Meistens war Mama es, die ihm sein Fressen machte, doch seit Tom gelernt hatte mit dem elektrischen Dosenöffner umzugehen, durfte er es auch manchmal versuchen. Er war schließlich schon fast zehn Jahre alt und wenn man schon ein junger Mann war, gehörten elektrische Geräte nicht mehr zu den Instrumenten des Hauses, die ein Kind in den Tod reißen konnten.
Wenn Curly fertig mit Fressen war, gab es dann normalerweise Abendessen. Das hatte nicht direkt etwas mit Curly zu tun, sondern vielmehr damit, dass man als Familienmitglied der Feldkellers den Kühlschrank nicht allzu oft öffnen durfte. Das Gerät war fast doppelt so alt wie der Hund und wenn man sich einmal getraut hatte die Tür aufzuziehen begann die ganze Küche zu brummen und zu vibrieren, und meistens dauerte es fast eine halbe Stunde, bis die Temperatur des Kühlschranks sich wieder auf das notwendige Minimum herab gequält hatte.
„Sind wir bald da?“, maulte Alyssa und riss Tom aus seinen Gedanken. Doch Papa ignorierte seine Tochter, denn Alyssa hatte schon fünf Mal gefragt und die Schlieren aus Regen trugen nicht gerade zu seiner Redemotivation bei.
Toms Schwester schob beleidgt die Unterlippe vor und steckte sich die Kopfhörer ihres Mp3 Players zurück in die Ohren. Daraus ertönte ein Lied von Sido (das war so ein Hip Hop Typ, von dem in der Schule alle sprachen, doch Tom kannte sich da nicht so aus. Meistens ging es in den Liedern um Sex (über Sex sprachen ebenfalls alle in der Schule, und das obwohl niemand so richtig wusste was das eigentlich war)).
Tom sah zu seiner Schwester herüber. Sie war drei Jahre älter als er und hatte glatte, braune Haare, die ihr bis zu den Schultern reichten. Früher waren sie einmal viel länger gewesen, doch in Alyssas Klasse waren vor einem halben Jahr Läuse ausgebrochen und nach einer tatkräftigen Untersuchung ihrer Kopfhaut hatte Mama ihr einen Kurzhaarschnitt verpasst. Wenn Tom an dieses Ereignis zurück dachte, jagten ihm noch immer Schauer über den Rücken, denn wenn man nicht gewusst hätte, dass es sich um einen Haarschnitt handelt, hätte man meinen können im Hause der Feldkellers würde jemand zu Tode gefoltert. Das war eine der ersten Situationen, die Papa manchmal als Östrogenfiasko bezeichnete, wenn keine Frauen anwesend waren.
Ohne seinen Blick zu erwidern stierte Alyssa auf die Rückseite des Beifahrersitzes. Sie war heute nicht gut auf ihren Bruder zu sprechen, denn bevor die Feldkellers zu ihrem „großen Abenteuer“ aufgebrochen waren, hatte Tom sie im Badezimmer dabei erwischt, wie sie sich ihre Oberweite mit Klopapier ausgestopft hatte. Das darauf folgende Drama hatte Mama nur damit in den Griff bekommen, in dem sie mit ihr ein langes „Mutter-Tochter-Gespräch“ geführt hatte, was ihren Aufbruch um fast eine Stunde verzögert hatte. Doch das war nicht schlimm, und Tom hatte Papa dabei zugesehen, wie er versucht hatte den Motor des alten Polos wieder in Gang zu setzen, der die Familie in ihr Abenteuer begleiten sollte. Das Auto war tatsächlich mehr als doppelt so alt wie der Kühlschrank.
Plötzlich erfüllte ein Geräusch die Luft, was sich so anhörte, als würde man versuchen die Restmenge an Ketschup aus einer Tube zu drücken. Die Köpfe der Eltern schnellten zur selben Zeit herum, so als würden sie von einem unsichtbaren Puppenspieler an unsichtbaren Fäden gesteuert.
„War das etwa Curly?“, schnaubte Mama und wedelte mit gerümpfter Nase vor ihrem Gesicht herum. Tom unterdrückte ein Lachen, doch verzog sich dann auch sein Gesicht, als ihm ein ziemlich eindeutiger Geruch nach faulen Tomaten in die Nase stieg.
„Mein Gott, macht mal einer das Fenster auf?“, fauchte Alyssa, die sich kurzerhand von ihren Ohrhörern befreit hatte.
„Jaja, zu Befehl“, sagte Papa und machte eine devote Handbewegung. Dann drückte er mit gequältem Gesichtsausdruck auf einen Knopf neben dem Schaltknüppel. Mit einer stotternden Bewegung ruckelte das Fenster der Beifahrertür herab und kalt stäubende Feuchtigkeit wurde in den Innenraum des Polos gewirbelt.
„Igitt“, rief Alyssa und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. „Mach das sofort wieder zu!“
Aber als Papa versuchte seine Aktion rückgängig zu machen, gab es nur ein sanftes Klickgeräusch und nichts weiter geschah.
Nach einigen weiteren Versuchen das Fenster wieder zu schließen fuhr Papa rechts ran, und sie stoppten von trüber matschiger Landschaft umgeben am Straßenrand. Das Jammern des Motors erstarb und nur noch das Klopfen des Regens auf dem Blechdach war zu hören. Mama drückte noch einige Male auf dem Knopf herum, während Papa das Fenster mit solcher Abscheu fixierte, als wolle es sich aus schierer Bosheit nicht mehr schließen lassen.
„So können wir nicht weiter fahren“, konstatierte Mama und versuchte durch eine wedelnde Bewegung mit ihren Händen die Regentropfen davon abzuhalten ihr Gesicht zu attakieren.
Aber Papa antwortete nicht, sondern starrte nur abwechselnd den Knopf und das Fenster an. Tom bemerkte, dass sich in der Mitte seiner Stirn eine Furche gebildet hatte, die immer nur dann da war, wenn irgendetwas kaputt ging. Und bei Feldkellers gingen häufig Dinge kaputt, die mit großer Mühe wieder repariert oder geflickt werden mussten. Denn Mama und Papa verdienten mit der Baumschule, die sie zu Beginn ihrer Ehe eigens gegründet hatten nicht genug, um etwas neu zu kaufen, was besonders von Alyssa mindestens einmal am Tag abschätzig kommentiert wurde.
„Naja zumindest…“, begann Papa zögernd, „… zumindest wird das heute einer der letzten Tage sein, an denen wir mit solchen Schicksalsschlägen gebeutelt werden.“
„Achja, warum denn plötzlich?“, fragte Alyssa und zog eine Schnute. „Haben wir im Lotto gewonnen?“
„Naja, so ähnlich“, sagte Papa und seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln. „Wir hatten euch für diesen besonderen Urlaub eine echte Überraschung versprochen. Und ich denke jetzt ist der Zeitpunkt das Geheimnis zu lüften.“ Er sah fragend zu Mama hinüber, die gerade dabei war sich in ihre Jacke zu manövrieren, um sich vor dem kalten Luftzug zu schützen, der noch immer unablässig in den Innenraum strömte. Sie hielt in der Bewegung inne und runzelte die Stirn.
„Bist du wirklich sicher, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist?“
Papa nickte eifrig. „Wann sonst, wenn nicht jetzt? Wir wären schließlich in zwanzig Minuten am Ziel und jetzt sollten wir dem Auto etwas Zeit geben sich zu erholen.“
Alyssa machte ein Geräusch mit der Zunge, was wohl bedeuten sollte, dass sie nicht daran glaubte, dass der Polo sich jemals wieder erholen würde. Aber Papa ignorierte es und räusperte sich bedeutend.
„Dieser Urlaub ist etwas ganz Besonderes“, verkündete er und in seine Augen trat ein aufgeregter Schimmer. „Vor drei Wochen ist nämlich etwas ganz Wunderbares geschehen!“
Mama warf ihm einen scharfen Blick zu, so als habe er gerade etwas schrecklich Verwerfliches von sich gegeben.
„Naja, ‚Wunderbar‘ ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck“, korrigierte sich Papa. „Aber vor drei Wochen hat eure Großtante Edeltrud das Zeitliche gesegnet.“
Alyssas Augen wurden plötzlich ganz groß.
„Du meinst die alte Schatulle, die uns immer dieses komische Trockenfleisch zu Weihnachten geschickt hat?“
Mamas Augen verengten sich.
„Alyssa!“ Sie spuckte den Namen ihrer Tochter fast aus. „Sie war deine Großtante!“
Papa holte geräuschvoll Luft, um etwas zu sagen, doch dann überlegte er es sich scheinbar doch anders und schwieg.
In Tom brachen einige Erinnerungen an Tante Edeultrud herauf. Persönlich getroffen hatte er sie erst zwei Mal in seinem Leben. Das erste dieser Ereignisse hatte sich in grauer Vorzeit ereignet und Toms Erinnerungen an diesen Lebensabschnitt glichen einem unvollständigen Puzzle. Damals war sie bei ihnen zu Hause gewesen und hatte sich unumwunden darüber ausgelassen, wie heruntergekommen das Haus war.
„Ich weiß nicht, wie du in diesem Loch leben kannst“, hatte sie immer wieder zu Mama gesagt und die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen. „Ich würde es eher als ‚hausen‘ bezeichnen. Als du geheiratet hast, habe ich dich vor diesem Leben immer gewarnt, aber du wolltest es ja nicht anders.“
Daher war es auch kein Wunder gewesen, als Papa zu der großen Familienfeier vor zwei Jahren nicht mitgefahren war, sondern stattdessen eine „Dienstreise“ in den Baumarkt unternommen hatte.
Tom hatte Großtante Edeltrud dort ein zweites Mal getroffen und sie schien in ihrer Gestalt und Ausstrahlung noch viel gewaltiger geworden zu sein. Mit Unterarmen so kräftig wie Katapultbügeln hatte sie Tom und Alyssa an sich gepresst, sodass sie fast in ihrem nach Lavendel duftenden Busen erstickt wären.
Tom musste zugeben, dass ihm das Dahinscheiden dieser entfernten Verwandten keine allzu große Trauer bereitete.
„Nunja, jedenfalls“, räusperte sich Papa, „hat Tante Edeltrud eurer Mutter ein nicht zu verachtendes Vermögen hinterlassen. Kurz gesagt: Sie hat uns ihr Anwesen vererbt.“
Er schlug den Blick etwas nieder, als sei es ihm peinlich etwas von der Frau anzunehmen, die ihm all die Jahre nur Missgunst entgegen gebracht hatte.
Für einige Momente war es ganz still im Auto und außer dem Rascheln ihrer Kleidung und dem Wind war nichts zu hören. Sogar der Regen schien eine Schweigeminute für Tante Edeltrud eingelegt zu haben.
„Wollt ihr uns damit sagen, dass wir es dieses Mal nicht mit fremden Socken und Haustieren zu tun haben werden?“, fragte Alyssa und erntete einen sengenden Blick von ihrer Mutter.
„Richtig“, antwortete Papa. „Dieses Mal machen wir keinen Wohnungstausch.“
Jermey wurde bei dem Wort „Wohnungstausch“ immer ein wenig anders zu Mute. In den letzten Jahren hatten sie, um möglichst viel Geld zu sparen, immer Urlaube gemacht, in denen sie mit anderen Familien die Häuser getauscht hatten. Das Blöde war nur, dass diese anderen Familien meistens noch viel unordentlicher waren, als die Feldkellers selbst. Daher hatte es in jeder der Bruchbuden, in denen sie in den letzten Jahren untergekommen waren immer auf die unterschiedlichsten Weisen gerochen. Alyssa schwor sogar darauf, in dem Haus des letzten Familienurlaubs habe ein totes Pferd im Keller gelegen. Doch Tom war sich nie sicher gewesen, ob diese Geschichte wirklich wahr sein konnte.
„Wie ist es denn geschehen?“, riss sie ihn aus den Gedanken.
„Wie ist was geschehen?“, fragte Mama.
„Naja, wie ist Tante Edeltrud gestorben?“
„Achso, mhh“, machte Papa, als sei das ein ganz schlechtes Thema.
Er sog geräuschvoll die Luft durch die Zähne ein und setzte zum Sprechen an: „Also sie ist keines natürlichen Todes -„, doch Mama unterbrach ihn.
„Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr“, sagte sie und lächelte affektiert. „Die Hauptsache ist: Wir haben den besten Familienurlaub vor uns, den man sich nur wünschen kann. Wir werden für zwei Wochen in ihrem Haus wohnen und es anschließend für sehr viel Geld verkaufen.“
Bei diesem Satz kehrte der Glanz im Papas Augen zurück, der normalerweise nur da war, wenn er einen neuen Baum ins Sortiment aufnehmen durfte.
„Wie herrlich ich den Laden aufrüsten werde“, träumte er und reckte die Brust so weit nach vorne, als könne sie jeden Moment vor dem Stolz explodieren. Für diesen Moment schienen alle das kaputte Fenster vergessen zu haben und sogar Alyssas Erinnerung an ihren zu kleinen Busen schien wie weggeblasen.
Erst als Curly den Schwanz hob und einen weiteren Furz verlauten ließ, kehrten alle in die Wirklichkeit zurück.
„Puh, wir müssen weiter fahren“, stellte Mama fest und Papa startete den Motor. Ein schmatzendes Geräusch kam aus der Kühlerhaube und der Wagen begann unregelmäßig zu scheppern.
Und als ob das Schicksal heute eine Ladung Opiate geschluckt hätte, wackelte das Fenster sogar wieder brav zurück in seine Ursprungsposition, als Papa mit ungedämpftem Optimismus auf den Knopf drückte. Die Reise konnte also weiter gehen!
Wenn Familie Feldkeller gewusst hätte, was sie in Edeltruds Haus erwarten würde, hätten sie vermutlich auf der Stelle kehrt gemacht und auf ihr Erbe verzichtet.
Haus
Tom sprang als erster aus dem Auto, als sie nach zehn Minuten Fahrt über eine Schotterstraße ihr Ziel erreicht hatten. Der Regen war inzwischen komplett versiegt und die Wolken waren einem zarten Blau gewichen, was sich über ihnen wölbte, als befänden sie sich in einer riesigen Schneekugel.
Sogar der Schimmer des Sonnenuntergangs stand über dem Horizont, wo die ausgefransten Wolken wie eine klaffende Wunde aufgerissen waren.
„Ich bin als erste da“, rief Alyssa, deren Laune mit jedem Kilometer besser geworden war, und plötzlich war sie wieder das fröhliche Mädchen, das alle zum Lachen hatte bringen können, bevor sie zur trotzigen Teenagerin mutiert war.
Sofort jagte Tom seiner Schwester nach, eine sanfte Erhebung hinauf bis zu einem Wäldchen, hinter dem bereits die Türmchen eines großen Hauses in den Himmel zeigten.
Ihre Schuhe machten saugende Geräusche in dem Morast, doch sogar Alyssa schien es egal zu sein. Sie huschte zwischen dampfender Vegatation und brusthohen Sträuchern hindurch, sodass Tom sich eingestehen musste, dass seine Schwester schon über einen Kopf größer war als er und viel längere Beine hatte.
Trotzdem standen sie kurze Zeit später mit pochenden Herzen und brennenden Lungen vor dem Gebäude. Es war ganz anders, als sie erwartet hatten. Etwas windschief war es, als hätten die Stürme der letzten Jahre es immer krummer werden lassen und trotzdem wirkte es irgendwie stilvoll. Vier kleine Türmchen schraubten sich an jeder Ecke des Hauses in den Himmel. Daraus blickten im leichten Schimmer des Sonnenuntergangs ein Dutzend Fenster zu ihnen hinab, hinter denen es sich gewiss prächtig spielen ließ.
Und genau vor ihnen, wie das geschlossene Auge einer schlafenden Bestie, erhob sich eine verglaste Eingangstür, die aus Hunderten winziger Scherben zusammen gesetzt zu sein schien.
„Das ist ein Mosaik“, belehrte Alyssa Tom und trat etwas näher an das Eingangsportal heran. Behutsam streckte sie die Hände aus und strich über das Glas.
„Ich glaube Papa müsste zweihundert Jahre irgendwelche Bäume pflanzen, um sich allein die Tür leisten zu können“, grinste sie und brachte Tom nach langer Zeit noch einmal zum Lachen.
„Und, wie gefällt es euch?“, schallte Papas Stimme von einem Schotterpfad zu ihnen herüber, über den man das Haus auch trockenen fußes erreichen konnte. Mama hatte ihn mit allen möglichen Koffern behängt und Tom fand, dass er ein bisschen so aussah, wie ein wandelnder Gepäckständer.
„Ich finde es einfach traumhaft“, rief Alyssa und sprang aufgeregt im Kies herum. „Ich frage mich, wieso Tante Edeltrud gerade uns dieses Haus vererbt hat.“
Papa schloss zu ihnen auf und gab ein lautes Schnaufen von sich, als er zwei Taschen und einen Rucksack vor der Tür auf den Boden sacken ließ. Die Gepäckstücke sahen allesamt so aus, als seien sie in den letzten Jahren von irgendeinem Tier als Kratzbaum verwendet worden. Dieser köterte ziemlich unbeeindruck hinter Mama her, die nur eine kleine Tasche trug.
„Tja, sie hat uns als Familie eben hoch geachtet“, gluckste Papa ohne zu versuchen den Sarkasmus in seiner Stimme zu verbergen und begann in den vielen Taschen seines Parkers nach dem Schlüssel zu fahnden.
Es dauerte eine Weile bis sie vollzählig waren und er triumphierend einen archaischen Gegenstand aus Messing in die Lüfte hielt.
„Edeltrud, wir danken dir!“, verkündete er und rührte eine Weile in dem großen Schlüsselloch herum, bis schließlich ein zartes Klicken erklang und das Portal aufschwang. Als sie alle, Alyssa voran, die Eingangshalle betraten, atmeten sie alte staubige Luft, die sich schwer und abgestanden in ihren Lungen anfühlte, als seien sie bei Vampiren zu Besuch. Doch irgendwie roch es gleichzeitig auch süßlich, fast wie … „Lavelndel!“, sagte Mama und zog einen kleinen Rolli hinter sich her. „Außerdem ist es viel zu dunkel.“
„Ja, und das Licht lässt sich nicht einschalten“, merkte Papa an und begann in seinem Rucksack zu wühlen. „Ich hatte doch hier irgendwo…“
Er zog schließlich eine Taschenlampe hervor, mit der man problemlos einen Gorilla hätte ko schlagen können.
„Es werde Licht“, sagte er und schaltete die Lampe ein. Der Schein funzelte über kunstvoll verzierte Wände, eine breite Eichenholztreppe, die in die oberen Etagen führte und etwa zwei Dutzend Büsten in den verschiedensten Größen und Formen, die an den Wänden und auf hüfthohen Säulen im ganzen Foyer verteilt standen.
„Abgefahren“, sagte Alyssa und erklomm mit Tom an der Hand die Treppe.
„Stolpert nicht“, rief Mama und folgte ihnen. „Ich bin sicher Papa findet den Sicherungsschalter, dann haben wir auch Licht. Geht so lange draußen spielen.“
„Wir können uns hervorragend orientieren“, versicherte Alyssa und stieg mit einer damenhaften Geste die Treppe noch weiter hinauf. Doch Mama ließ nicht locker und orderte sie alle zurück in die Eingangshalle.
„Geht noch so lange raus oder wartet hier, bis wir den Strom eingeschaltet haben“, befahl sie und an dem eisernen Ton in ihrer Stimme merkten alle, dass es keine gute Idee war, ihr noch einmal zu widersprechen.
Somit umrundete Alyssa mit Tom das Haus und zu ihrer großen Überraschung entdeckten sie, dass es auf der Rückseite von einem Baugerüst umstellt war.
„Scheinbar hatte die alte Schatulle noch große Pläne mit dem Haus“, sagte Alyssa und war im Nullkommanichts eine kleine Aluminiumleiter auf die erste Ebene geklettert. Begeistert folgte Tom ihr und kurze Zeit später schepperten ihre Schritte über die Metallgitterroste und Curly, der ihnen wild hechelnd gefolgt war, ergriff erschrocken die Flucht. Das alles war viel zu herrlich, um wahr sein zu können.
Es dauerte nicht lange, bis Mama sie erwischt hatte und zurück ins Haus beorderte. Mit scharfer Stimme gab sie den beiden zu verstehen, wie gefährlich ihre Kletterexpedition gewesen sei und dass es Fernsehverbot geben würde, wenn sie das noch einmal täten.
Als Tom dicht gefolgt von seiner Schwester die Eingangshalle wieder betrat, glommen bereits große Leuchten aus Messing an den Wänden und erfüllten den Saal mit einem fahlgelben Schein. Papa berichtete mit großem Stolz, wie es ihm gelungen war, in den Keller hinab zu steigen und die Sicherungen wieder hereinzudrücken.
„Es ist stockfinster da unten“, pries er seine Tat an, als sei er ein Märchenheld, der gerade eine holde Jungfrau aus der Gruft eines Monstrums befreit hatte. „Außerdem waren da überall so komische Steine im Boden und Spinnennester hingen von der Decke.“ Alyssas Gesicht verformte sich zu einer angeekelten Grimasse.
„So“, sagte Mama unbeeindruckt und klatschte in die Hände. „Ich werde jetzt die Küche wieder in Betrieb nehmen, während ihr Papa dabei helft die Betten zu beziehen.“
Sie drückte Tom einen kleinen Koffer in die Hand und deutete die Treppe hinauf in die obere Etage. Anschließend hievte sie eine Klappbox mit Lebensmitteln hoch, die während der Fahrt zwischen Alyssa und Tom gestanden hatte und verschwand mit wankenden Schritten in einem Raum auf der linken Seite.
Papa sah ihr noch für einige Momente hilflos hinterher, straffte sich dann jedoch und schleppte zwei Koffer die Treppe hinauf.
Tom und Alyssa folgten ihm aufgeregt und sahen sich während des Aufstiegs zu allen Seiten um.
„Hier hängen ja furchtbar hässliche Bilder“, merkte Alyssa an und deutete auf ein goldgerahmtes Portrait mit einem fetten Mönch, der auf einem Schemel saß und mit hängenden Wangen auf sie herabblickte.
„Edeltrud hatte eben ein Faible für Kunst“, sagte Papa und trat auf eine breite Empore, von der man eine herrliche Sicht in die Eingangshalle hatte, als auch einen breiten Korridor betreten konnte. Tom und Alyssa rannten voran und traversierten einen Raum nach dem anderen. Türen wurden geöffnet, Schubladen und Schränke nach spannenden Gegenständen durchforstet und Papa geärgert, der in einem der Schlafzimmer das Hauptquartier der Eltern aufgeschlagen hatte.
„Sucht euch am besten ein Zimmer aus und kümmert euch um eure eigenen Betten“, sagte er mit gequältem Lächeln während er zum dritten Mal versuchte ein riesiges Plymo in den viel zu kleinen Bezug zu stopfen. Doch Tom , der fand, dass das ein bisschen aus aussah, als würde Papa mit einem Eisbären kämpfen, bewegte sich erst vom Fleck als Alyssas freudige Rufe ihn zurück in den Korridor lockten. Aufgeregt winkte sie ihm von dessen Ende zu sich herbei.
„Ich habe den Zugang zu einem Türmchen gefunden“, frohlockte sie, und zog ihren Bruder eine steinerne Wendeltreppe hinauf. An deren Ende fanden sie einen runden Raum vor, kaum drei Schritte im Durchmesser, in dem nur ein kleines Bett mit einem hübschen Nachtschränkchen stand.
„Hier möchte ich auf jeden Fall schlafen“, sagte sie entschlossen und legte ihren Rucksack auf die Matratze, um ihr Revier endgültig zu markieren. Ihr Teddybär, Mr. Dingdong, lag bereits in die Decke eingehüllt dort.
Tom blickte durch eines der kleinen Fenster auf die dämmernde Landschaft hinab. Er stand so nah an dem Glas, dass er die Kühle auf der Haut spüren konnte, die sich von außen durch die einfachverglaste Scheibe drückte. Das graue Restlicht des Tages lag über den dichten Kiefernwäldern und ein wenig Nebel drückte kühl und feucht zwischen den Hügeln herab. Für einen kurzen Moment spürte er ein banges Gefühl im Unterleib.
„Was guckst’n so ängstlich?“, fragte Alyssa und kramte alle möglichen Mädchensachen aus ihrer Tasche.
„Ich finde es etwas gruselig hier“, sagte Tom . „Vielleicht können wir ja in der ersten Nacht in einem Zimmer schlafen.“
Alyssa, die gerade einen Kulturbeutel mit Schminkdöschen, Lipgloss und Rouge auf ihrem Kissen geleert hatte, hielt in der Bewegung inne.
„Ach kleiner Bruder. Wovor fürchtest du dich?“, sagte sie etwas herablassend und zog ihr Handy hervor. „Dieser Ort ist das beste Urlaubsziel, was wir jemals hatten!“
Tom war es etwas peinlich, dass Alyssa überhaupt keine Angst zu haben schien und nuschelte nur etwas zur Antwort, was er selbst nicht richtig einordnen konnte.
Er wollte gerade die Treppe hinabsteigen, um sich ein eigenes Zimmer zu suchen, als seine Schwester einen empörten Laut von sich gab. Als er sich noch einmal zu ihr herumdrehte funkelten ihre Augen aufgebracht auf das Display ihres Smartphones.
„Kein Empfang“, wimmerte sie und ihre beiden Daumen zuckten ungläubig über der spiegelglatten Bedienoberfläche des Telefons. „Kein Balken.“
Ruckartig setzte sie sich zurück auf die Matratze. Das unheilvolle Knacken beanspruchter Sprungfedern ertönte und ihre kosmetischen Utensilien begannen fröhlich auf und ab zu hüpfen. Die ganze Welt um sie schien plötzlich vergessen zu sein. Inklusive Tom.
Dieser wollte gar nicht erst wissen, was jetzt für ein Inferno folgen musste und zog sich lautlos zurück. Von unten konnte er noch immer hören, wie Papa mit dem Bettzeug kämpfte und weil scheinbar jeder außer ihm einer intensiven Beschäftigung nachging, entschloss er sich dazu die übrigen drei Türme zu erkunden.
Tatsächlich war das schnell gemacht, denn zurück in der Eingangshalle bemerkte er, dass die zwei vorderen Türmchen nur Attrappen waren und daher gar nicht begehbar waren. Der letzte Turm indes, ließ sich durch eine noch längere Wendeltreppe aus der untersten Etage erreichen und war nur ein alter Verschlag, in dem es nicht halb so gemütlich war, wie in Alyssas Zimmer.
Doch seine Enttäuschung darüber war schnell verflogen, als er neben der Küche ein großes Gemach mit einem Himmelbett entdeckte, was so gemütlich aussah, dass er sich am liebsten sofort darin verkrochen hätte. Für einige Momente versuchte er das viel zu kleine Spannbetttuch über die pompöse Matratze zu zwängen, doch das endete immer darin, dass der Stoff ihm aus den Fingern flutschte und er von neuem beginnen musste.
Als er dann frustriert zurück in den Korridor stapfte, stieg ihm bereits ein ziemlich strenger Geruch in die Nase.
„Essen ist fertig“, jubelte Mamas Stimme aus der Küche und Tom folgte ihr mit einem unheilvollen Gefühl in der Magengrube in den einzigen Raum, den er noch nicht betreten hatte.
Die Küche in Großtante Edeltruds Haus war etwa fünfmal so groß wie die der Feldkellers und barg gefühlte zweitausend Pfannen, Töpfe, Reiskocher und Siebe, die in etwas alterschwachen Holzregalen und an Wandhalterungen an den Wänden deponiert waren. In der Mitte thronte eine monumentale Kochinsel, auf der zwei Töpfe brodelten, in denen Mama herumrührte. Zu ihren Füßen hatte sich Curly auf den braunen Fliesen zusammen gerollt.
„Hier drin kann man ja Essen für ganz Indien zubereiten“, scherzte Papa, der Mamas Ruf aus der oberen Etage gefolgt war. „Was ist denn das?“ Er warf einen skeptischen Blick in einen der Kochtöpfe.
Mama stemmte die Arme in die Hüften. „Grünkernsuppe!“, antwortete sie. „Wo ist Alyssa?“
Diese Frage richtete sich an Tom , der an einem massiven Holzstisch Platz genommen hatte und der schon bei dem Gedanken an Grünkernsuppe das Gefühl hatte, ein zäher Klumpen verstopfe seine Speiseröhre.
„Im hinteren Turm“, sagte er.
„Dann hol sie bitte“, sagte Mama.
„Okay“ Er stemmte sich hoch und trottete zurück in die Eingangshalle, doch Alyssa war bereits auf dem Treppenabsatz erschienen und hielt ihr Smartphone hoch in die Lüfte.
„So ein verdammter Mist“, fluchte sie und wäre beim Laufen fast die Stufen hinab gestolpert, wenn Tom sie nicht in letzter Sekunde gewarnt hätte.
Er zuckte mit den Schultern und kehrte in die Küche zurück, wo Mama ihnen allen bereits reichlich Suppe eingeschenkt hatte.
„Das ist pure Bioqualität“, verkündete sie und haschte nach einem Kompliment von Papa, doch der starrte nur blicklos vor sich hin, als sei er plötzlich mit etwas ganz anderem beschäftigt.
Es folgte ein Abendessen während dem Alyssa mit saurer Agonie in der Stimme immer wieder verkündete, wie wenig Lust sie noch hatte hier zu leben, wenn es keinen Empfang gab, und Tom eine große Szene aus dem Vertilgen der breiigen Substanz machte, die Mama als „Essen“ bezeichnete.
„Vielleicht gibt es hier ja WLAN“, versuchte Papa die Stimmung etwas aufzubessern, doch erntete er nur ein humorloses Lachen von seiner Frau.
„Edeltrud hatte nicht einmal ein schnurloses Telefon. Ich fürchte wir werden in diesem Urlaub auf alle digitalen Bequemlichkeiten verzichten müssen.“
Das schien auch Papas Laune etwas zu dämpfen und alle löffelten nur schweigend die Suppe in sich hinein.
„Darf ich aufstehen und ins Bett gehen?“, fragte Alyssa schließlich und als niemand etwas dagegen einwandte verschwand sie nach einem kurzen „gute Nacht“ in der Eingangshalle und man konnte sie extra laut stampfend die Treppe nach oben steigen hören.
Als Tom dann den letzten Löffel seiner Suppe gegessen hatte, machte Papa den Abwasch und Mama bezog sein Bett während Tom als Gegenleisung mit Curly vor die Tür gehen musste, um ihn dazu zu überreden sein Abendgeschäft zu erledigen. Trotz der kühlen Nachtluft
Hätte sie gewusst, was in dieser Nacht geschehen sollte, sie hätte ihren Sohn wohl nicht alleine in dem großen Himmelbett schlafen lassen und ihm zumindest Curly als Verstärkung gelassen.
Bild
Tom schlief schnell ein und hatte einen intensiven Albtraum, in dem er durch eine endlose Wüste aus weißem Sand unterwegs war. Über ihm loderte die Sonne in erbarmungslosem Weiß und seine Zunge fühlte sich so trocken an wie Sandpapier. Die Wärme lastete auf ihm wie eine Decke, erwürgte ihn beinahe, doch natürlich wusste Tom, was in einer solchen Situation zu tun war. Er musste eine Oase finden. So hatten es auch Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer gemacht.
Und als ob der Traum in der Lage gewesen wäre seine Gedanken zu lesen, tauchte da plötzlich ein Palmenhain vor ihm auf und Tom wusste, dass er dort trinken konnte. In seinem Geist entstand das Bild einer sprudelnden Quelle. Wasser, hell perlend, silbern glitzernd, schäumend und erfrischend.
Doch als er die Palmenblätter beiseite schob, war da nur ein riesiger See aus Grünkernsuppe. Jetzt würde er hier verdursten.
Es durchzuckte ihn wie ein elektrischer Schlag und Jermey erwachte. Die trügerische Wirklichkeit des Traumes hatte ihn noch immer in ihren Fängen und er brauchte eine Weile, um zu realisieren, dass er in Sicherheit war. Nur das trockene Gefühl in seinem Mund war noch da. Schrecklich. Als sei ihm die Zunge im Mund festgewachsen.
Er schlug die viel zu dicke Decke zurück und die Kühle des Zimmers legte sich auf seine Brust. Aber gleichzeitig fühlte er sich jetzt auch viel verletzlicher und dem dunklen Raum um sich irgendwie ausgeliefert.
Unwillkürlich drückte er sich noch etwas fester in seine Kissen und atmete einige Male tief ein und aus.
Schließlich fühlte er sich in der Lage aufzustehen, denn er musste dringend etwas Wasser trinken. Mit einem beklommenen Gefühl in der Brust setzte er sich auf die Bettkante und spürte die Fasern des Teppichs unter seinen Fußsolen. Mama hatte ihm einmal erklärt, in allen Teppichen und Bettdecken lebten winzige Wesen, die sich von Staub ernährten und gegen die manche Menschen allergisch waren. Im Moment hatte Tom den Eindruck, diese Wesen zwischen seinen Zehen spüren zu können. Es war ein kribbelndes Gefühl, so als würde der Teppich selbst eine Gänsehaut bekommen, und Tom musste diesen Gedanken beiseite schieben, um genug Mut zum Aufstehen zu finden.
Er huschte zur Tür hinüber und trat hinaus in das Foyer. Bei der Dunkelheit wirkte es wie der Innenraum einer düsteren Kathedrale.
Neben der Küche gab es ein Badezimmer, wo er so schnell es ging sein kleines Geschäft verrichtete und so viel Wasser aus dem Hahn trank, bis ihm fast etwas übel war. Er wollte gerade zurück in sein Zimmer laufen, als er im Spiegel hinter sich etwas sah. Da hing ein Bild an der Wand, was so gar nicht in das geräumige Badezimmer passte. Es war ziemlich groß und darauf war ein Mann abgebildet, der ihn aus kleinen stechenden Augen anzusehen schien. In Tom stieg eine glühende, angstvolle Woge auf, doch irgendwie konnte er sich kaum von dem Anblick des Portraits losreißen. Um die Mundwinkel des Mannes hatten sich haarfeine Linien eingegraben, die diesem Gesicht etwas Grausames, Brutales gaben.
Und dann bewegte sich plötzlich etwas in dem Bild, was Toms Blut augenblicklich zum Kochen brachte. Er löste sich aus seiner Starre und rannte zurück in die Eingangshalle. Eine fremde Macht schien seinen Körper zu steuern und er hörte nur das Trippeln nackter Füße unter sich. Er raste die Treppe hinauf und trommelte mit beiden Fäusten gegen die Schlafzimmertür seiner Eltern.
Die Sekunden während er das tat, schienen sich zu endlosen Ewigkeiten hinzuziehen. Alles hier draußen war feindlich. Nur das Schlafzimmer seiner Eltern war sicher.
Und dann, so langsam, als würde es in Zeitlupe geschehen, öffnete ein ziemlich verquollen aussehender Papa die Tür und nahm seinen Sohn lange und ohne zu fragen, was denn los sei in die Arme.
„Du hast uns zu Tode erschreckt“, sagte Mama, die in ihrem rosa Nachthemd auf der Bettkante saß und ihrem Sohn durch die Haare fuhr. „Einen so schlimmen Albtraum hattest du noch nie.“
„Ich dachte schon die Russen greifen wieder an“, scherzte Papa, doch Tom fand das alles andere als komisch.
„Das war kein Albtraum. Da ist etwas im Badezimmer“, beteuerte er mit flatternder Panik in der Stimme. „Eines der Bilder dort hat sich bewegt.“
„Achja“, machte Papa. „Die Bilder hier können einem auch wirklich Angst einjagen.“
Er stand auf und verschwand durch die Tür, während Mama ein Stück Schokolade aus dem Nachtschrank holte und Tom ein Stück abbrach. Das war nichts Selbstverständliches, denn Zucker war im Haus der Feldkellers nur an Geburtstagen oder in Notfällen erlaubt.
Aus diesem Grund hatte die Schokolade auch die doppelte Wirkung und Tom fühlte sich schon nach wenigen Minuten besser.
„Also im Badezimmer ist nichts Ungewöhnliches“, sagte Papa, der in seinem Morgenmantel zurück in den Raum geschlurft war. „Da hängt auch kein Bild.“
Toms Kopf ruckte ungläubig nach vorne.
„Ich habe es aber genau gesehen.“
Er aß noch ein zweites Stück Schokolade und fühlte sich dann so gestärkt, dass er sich traute mit Mama und Papa die Treppe hinunter zu steigen, um dem Badezimmer einen weiteren Besuch abzustatten. Mit etwas wackeligen Beinen folgte er ihnen über die kalten Fliesen und schob dann vorsichtig seinen Kopf durch die Tür. Papa hatte das Licht eingeschaltet.
„Siehst du mein Junge. Alles in bester Ordnung“, verkündete er, doch als Tom an genau die Stelle der Wand blickte, wo er zuvor das Bild gesehen hatte, stieg eine Hitzewelle in ihm auf, die ihm die Luftröhre zuschnürte und ihm den kalten Schweiß auf die Stirn trieb. Er wurde in den Knien ganz weich und hatte für einen kurzen Moment den Eindruck nicht mehr richtig stehen zu können.
An der Stelle, wo er zuvor das Bild gesehen hatte, war tatsächlich kein Bild. Doch stattdessen war da etwas viel Schlimmeres. Was da an der Wand im gelben Schein der Lampen schimmerte war ein Fenster.
Bevor Tom die Gelegenheit bekam, etwas zu sagen – wozu er ohnehin nicht im Stande gewesen wäre – schrillte ein Kreischen durch das Haus. Es war ein infernalischer Schrei, der einem durch Mark und Bein ging und Tom in den Zähnen wehtat.
„Güte! Alyssa“, rief Mama und stürmte die Treppe hinauf. Papa zog 3 hinter sich her und sie folgten ihr in den zweiten Stock, den Korridor entlang bis zum Aufgang des hinteren Türmchens.
Als sie die Steintreppe zu Alyssas Zimmer hinauf keuchten, gellte der Schrei erneut durch ihre Knochen. Mama stieß die Tür auf und fand Alyssa auf ihrem Bett sitzend da. Sie hatte ihre Finger um Mr. Dingdong gekrallt. Elfenbeinartig schimmerten sie zwischen dem braunen Stoff des Teddys hervor, so fest hatten sie sich darin verkrampft.
In ihrem Gesicht stand das blanke Entsetzen; ihr linkes Auge war blutunterlaufen. Ohne Probleme hätte sie mit dieser Grimasse eine Menge Geld in einem Gruselkabinett verdienen können.
„Mädchen, was ist denn passiert?“, fragte Mama aufgebracht und drückte ihre Tochter an sich.
Diese brauchte eine Weile, um sich zu beruhigen und schluchzte nach einer Weile nur noch mit gepressten Lauten vor sich hin.
„Hat sie etwa auch einen Geist gesehen?“, fragte Papa an Tom gewandt, der seinen eigenen Schreck vor Aufregung fast vergessen hatte.
„Nein, ich habe Curly gesehen“, wimmerte Alyssa mit bebenden Nasenflügeln. „Curly ist – “
Sie schloss die Augen und schniefte ein paar mal. Dann bewegten sich ihre Lippen ein paar Mal bevor sie sprach, als müsse sie das Wort erst noch üben.
„Tot.“
Papa stieß ein freudloses Lachen aus.
„Jetzt mal ganz ehrlich. Curly sieht doch immer so aus, als sei er schon tot!“
„Ja, und er riecht auch so“, setzte Tom noch hinzu.
Wenn die Blicke der Frauen Laserstrahlen gewesen wären, die beiden Männer wären in diesem Moment zu Asche zerfallen.
„Das ist nicht lustig!“, sagten sie wie aus einem Mund.
Papa breitete die Hände in einer nach Entschuldigung heischenden Geste aus. Dann, ohne noch etwas zu erwidern verschwand er die kleine Steintreppe hinunter.
„Aber wie kommst du denn darauf, dass er tot ist?“, fragte Tom an seine Schwester gewandt.
„Weil er…“, schluchzte sie, „…weil er da am Treppenabsatz lag und nicht mehr geatmet hat. Und er hatte keine Augen mehr!“
Mama gab einen komischen Laut von sich. „Und was ist mit deinem Auge passiert?“, fragte sie und strich ihrer Tochter besorgt durchs Haar.
„Als ich gemerkt habe, dass mit Curly etwas nicht stimmt, bin ich nach hinten gestolpert und auf die Bettkante gefallen“, wimmerte Alyssa und schüttelte den Kopf. Mama sah sich die Verletzung etwas genauer an.
„Scheint nur ein kleines Veilchen zu sein“, sagte sie im Tonfall einer Krankenschwester und tupfte einige Tropfen Blut mit einem Taschentuch weg.
In diesem Moment war auch Papa schon wieder da, der Curly in seinen Armen hielt, als sei er ein Baby, was darauf wartete gestillt zu werden.
„Er ist quietschfidel“, verkündete er und legte die Bulldogge neben Alyssa auf die Matratze. Diese musterte das Tier mit tellergroßen Augen, als habe sie ihn noch nie zuvor gesehen.
„Aber“, sagte sie, doch sie beendete den Satz nicht, sondern hob den Hund an ihre Brust und knuddelte ihn ganz fest während sie gleichzeitig weinen und lachen musste. Curly gab ein von Pein gebeuteltes Jaulen von sich, doch dann ließ er die Kuschelattacke über sich ergehen und fügte sich seinem Schicksal.
„Naja“, sagte Papa mit kleinen Augen. „Jetzt wo alle schlimmen Träume vorbei sind, schlage ich vor wir gehen wieder zu Bett.“
Aber natürlich sträubten sowohl Alyssa, als auch Tom sich die Nacht alleine zu verbringen, und somit erlaubte Mama den beiden mit bei Papa und ihr im Bett zu schlafen.
Der Rest der Nacht verlief ohne jeden Schrecken und nur Curly, der alle paar Minuten einen dröhnenden Furz losließ störte ihre Nachtruhe noch etwas.
Frau
Wie immer nach Nächten, in denen man sich gegruselt hat, durchtränkte das Tageslicht am nächsten Morgen jeden einzelnen Raum von Großtante Edeltruds Anwesen und flösste allen neue Lebenskraft und Zuversicht ein.
Tom war als erster wach und trat mit Curly vor die Haustür. Vor ihm öffnete sich die dampfende Landschaft, schweigend und märchenhaft. Eine milde Sonne stand zwei fingerbreit über dem Horizont und rief den Frühnebel zu sich hinauf, der zwischen den Tälern wogte wie ein weißer Ozean.
Fröstelnd sah Tom dem Hund dabei zu, wie er im hohen Gras nach einem geeigneten Ort suchte, um sich zu erleichtern. Danach lief er in die Küche, wo Mama, etwas verschlafen, das Frühstück zubereitete und Hagebuttentee machte.
„Der ist gesund“, sagte sie und nickte Tom verheißungsvoll zu, für den schon eine einzige Tasse eine gefährliche Überdosis darstellte.
Schon kurze Zeit später saßen sie alle an dem Holztisch versammelt und stopften sich die von Mama selbst zubereiteten Biobrötchen in die Münder, auf denen man bedenklich lange und intensiv herumkauen musste, um überhaupt etwas schmecken zu können.
„Wer geht heute mit mir wandern?“, fragte Papa mit vollem Mund während er mit gespieltem Genuss an seiner Tasse Hagebuttentee nippte.
„Nur, wenn du uns nicht alle paar Meter etwas über irgendeinen Baum erzählst“, maulte Alyssa, die schon seit sie aus dem Badezimmer gekommen war, unverwandt auf das Display ihres Smartphones schaute, als könne sie mit ihrer puren Willenskraft die Funkwellen in die Küche locken.
Papa ging nicht darauf ein, sondern biss mit zu Schlitzen verengten Augen ein Stück von seinem Brötchen ab.
„Du legst jetzt deinen Gameboy beiseite und isst“, sagte Mama, die schon drei Tassen des Tees getrunken hatte. Man konnte Alyssa förmlich ansehen, wie angestrengt sie versuchte nicht mit den Augen zu rollen.
„Das ist ein Smartphone“, korrigierte sie und schob den Unterkiefer nach vorne.
In diesem Moment klingelte es an der Haustür. Es war ein schrilles Bimmeln, so unerwartete und fremd, als käme es aus einer anderen Welt.
„Wer könnte das denn sein?“, fragte Papa und wölbte die Augenbrauen.
„Das ist die Polizei“, sagte Alyssa. „Ich habe sie gerufen.“
Mamas Messer schien in der Luft zu gefrieren. Sie furchte die Stirn und sah ihre Tochter verdattert an.
„Du hast was getan?“
„Ihr habt uns doch beigebracht, wir sollten die Polizei rufen, wenn wir Hilfe benötigen“, verteidigte sich Alyssa.
„Ja aber doch nur in Notfällen.“
Papa erhob sich und spähte aus dem Küchenfenster. „Tatsächlich“, sagte er. „Da steht ein Polizist vor der Tür.“
Jetzt erhoben sich auch alle anderen und lugten unauffällig hinaus.
„Ein Berg von einem Mensch“, sagte Papa. „Nur sein Gesicht kann man kaum erkennen.“
Gespannt wie ein Flitzebogen folgte Tom seiner Familie in die Eingangshalle und verfolgte in sicherem Abstand, wie Papa einen Blick durch den Türspion warf.
„Ich sehe nur eine riesige Nase“, sagte er und unterdrückte ein Lachen. Dann öffnete er die Tür und die breiten Flügel des Portales schwangen zu beiden Seiten auf.
Dahinter erhob sich eine hünenhafte Gestalt mit kurzen blonden Haaren. Die Nase war tatsächlich sehr groß und dominierte das Antlitz wie ein großporiger Gesteinsbrocken.
„Rachenström“, ertönte eine sonore Stimme und der Polizist hielt Papa die Hand hin. „Vera Rachenström mein Name. Mir wurde ein Notfall gemeldet.“
Papas Augenbrauen zuckten unwillkürlich in die Höhe. Dass sich ihr Besuch als Frau entpuppte hatte keiner erwartet. Mit halb offenem Mund erwiderte er den Händedruck und die Pranken der Polizistin schlossen sich wie Baggerschaufeln um seine Finger.
Jeremies Augen weiteten sich und er beobachtete wie Papa die Dame mit einer einladenden Geste in die Halle einlud. Die Gesetzeshüterin hatte einen blonden Kurzhaarschnitt und eine echte Polizeiuniform an. An ihrer rechten Brusttasche war ein klobiges Funkgerät angebracht, wie er es schon aus dem Fernsehen kannte. Doch das Beste war eine wirkliche Pistole, deren Abzugsbügel im Holster schimmerte, und die nur darauf wartete eine Verbrecherbande zur Strecke zu bringen.
„Darf ich mich hier mal ein bisschen umsehen?“, brummte Vera Rachenström, und warf jedem von ihnen einen prüfenden Blick zu.
„Ähhh“, sagte Papa mit heiserer Stimme. „Eigentlich hatten unsere beiden Kinder nur Albträume.“
„Das waren keine Albträume!“, entfuhr es Alyssa. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, als könne sie nur so verhindern vor Entrüstung zu explodieren. „Mein Bruder hat heute Nacht einen Mörder draußen gesehen.“
Sie deutete auf Tom, der unwillkürlich ein paar Schritte zurück trat.
Bei dem Wort „Mörder“ schnellte der Kopf der Polizistin zu Alyssa hinüber und ihr Blick blieb für eine Weile an ihrem blauen Auge hängen.
„Wie ist das denn passiert?“, fragte sie und beugte sich etwas herunter.
Mama wollte gerade den Mund öffnen, als Tom schon sagte: „Der Mörder war auch bei Alyssa. Er hat sie erschreckt!“
In diesem Moment hörte man aus der oberen Etage ein schmerzvolles Jaulen. Es durchschnitt die Luft wie das Beil eines Henkers und jagte Tom eine Gänsehaut über den Rücken.
„Was war das?“, fragte die Polizistin und legte ihre Hand an das Holster.
„Er ist immer noch im Haus“, versicherte Alyssa mit sprühenden Augen.
„Achwas Unsinn!“, versicherte Papa. „Das war unser Hund. Er ist etwas tollpatschig.“
Die Beamte durchschritt mit zwei hünenhaften Bewegungen das Foyer und blieb auf dem Treppenabsatz stehen.
„Ich schwärme nach oben aus“, verkündete sie und Papa presste die Lippen aufeinander.
Jeremies Nerven waren jetzt so angespannt wie Drahtseile. Er beobachtete, wie Vera Rachenström mit wenigen Schritten die Treppe erklomm und dann auf der Empore inne hielt.
„Ein Hund“, stellte sie fest und Curly tauchte neben ihr auf, die treudoofen Augen äugten verständnislos in die Runde. „Und er hat hier alles voll gepieschert.“
„Nicht schon wieder“, jammerte Mama und rannte ebenfalls die Treppe hinauf.
Die nächsten Momente bestanden darin, dass sie mit einem Wischmopp bewaffnet den Boden vor dem Schlafzimmer sauber machte und Papa der Polizistin immer wieder versicherte, es gäbe überhaupt kein Problem und seine Tochter habe nur etwas überreagiert. Scheinbar war Curly einfach nur rückwärts die Treppe zum Türmchen hinunter gefallen, nachdem er versucht hatte in Alyssas Zimmer zu gelangen.
Nachdem die Gesetzeshüterin sich mit einem so festen Händedruck verabschiedet hatte, dass Papa die Tränen in die Augen traten, rannte Tom noch mit hinaus.
„Nanu, was möchtest du denn noch?“, fragte Vera Rachenström.
„Ich möchte ein echtes Polizeiauto sehen!“, sagte Tom und spürte sein Herz vor Aufregung in den Ohren pochen.
„Na schön!“, antwortete Vera Rachenström und sie liefen gemeinsam den Hügel hinab.
Und tatsächlich: Direkt neben dem Auto der Feldkellers schimmerte ein Polizeiauto. Zu Jeremies Bedauern war das Blaulicht ausgeschaltet, doch der Rest war schon prächtig genug. Mit gelben Streifen und blaulackierten Kotflügeln wirkte es neben dem alten Polo wie ein Raumschiff aus der Zukunft.
„Boah!“, rief Tom und rannte voraus, doch hielt er dann, in respektvollem Abstand, inne.
„Was möchtest du denn mal werden, wenn du groß bist?“, fragte Vera Rachenström.
„Ich möchte Polizeibeamter werden“, log Tom, der eigentlich immer Feuerwehrhauptmann oder Lokomotivführer hatte werden wollen.
„Möchtest du mal die Sirene einschalten?“, fragte Vera Rachenström und um ihre Lippen zuckte ein Lächeln.
Tom nickte aufgeregt. Mit so viel Glück hatte er gar nicht gerechnet.
Vera Rachenström öffnete die Tür und ließ Tom auf dem Beifahrersitz Platz nehmen. Sie schaltete den Motor ein und deutete auf ein Gerät mit bunten Knöpfen, was neben dem Tacho angebracht war.
„Hier darfst du jetzt mal drauf drücken“, sagte sie höflich und zeigte auf einen gelben Knopf.
Tom zögerte etwas, doch dann streckte er mit klopfendem Herzen den Finger aus und drückte auf den Knopf. Über ihm heulte die Sirene los, genauso wie er es schon ein paar Mal in der Stadt gehört hatte.
„Okay“, sagte Vera Rachenström und drückte auf einen anderen Knopf, um die Sirene wieder auszuschalten. „Jetzt muss ich aber weiter – Verbrecher jagen.“
Jeremies Augen wurden ganz groß.
„Haben Sie denn auch schon mal auf einen Verbrecher geschossen?“
Vera Rachenström schüttelte den wuchtigen Kopf. „Nein, da muss ich dich leider enttäuschen.“
Tom war tatsächlich ein bisschen enttäuscht, doch das war egal, denn in seinem Inneren brannte noch immer die Freude darüber, dass er in einem echten Polizeiauto saß.
„Aber wenn der Mörder wieder auftaucht, erschießen sie den für uns, oder?“
Vera Rachenström blickte etwas miesepetrig drein.
„Wenn der Verbrecher wieder auftaucht, ruft ihr mich einfach wieder an, und ich bin sofort da“, versprach sie und verabschiedete sich von Tom.
Er stieg aus und sie nickte ihm noch einmal freundlich zu. Dann fuhr das Polizeiauto los und knirschte die Schotterstraße hinunter. Er blieb noch so lange neben dem Polo stehen, bis es zwischen den Bäumen verschwunden war. Dann lief er freudig zurück zu Tante Edeltruds Haus.
Kurze Zeit später brachen sie zu Papas geplanter Wanderung auf. Der Polo schien die Nacht schlecht überstanden zu haben und als sie losfuhren, gab der Motor nach jeder Abbiegung krachende Geräusche von sich.
Schon nach wenigen Minuten führte sie eine Straße tief ins Tal hinab und sie wurden von einer wattigen Schicht aus Nebel verschluckt.
Tom sah zu Alyssa herüber, die mit einer Mischung aus Furcht und Trotz in die feuchte Suppe hinaus blickte. Sie hatte sich wieder die Kopfhörer ihres Smartphones in die Ohren geschoben und der fistelige Beat eines Hiphopsongs schallte zu Tom herüber.
„Der Nebel ist so dicht, es ist fast, als seien wir Unterwasser“, sagte Mama, die ebenfalls etwas ängstlich wirkte.
„Achwas“, winkte Papa ab. „Das ist nur vormittags so. Außerdem ist es doch toll, sich wie in einem U-Boot zu fühlen. Ein echtes Abenteuer eben!“
Er drosselte die Geschwindigkeit und sie bogen in einen milchigen Waldweg ab. Zweige knackten unter den Rädern des Autos und während sie in Schrittgeschwindigkeit weiter fuhren, tauchten immer wieder die Silhouetten grauer Bäume im Nebel auf. Fast wirkte es, als wollten sie mit ihren schlangenhaften Ästen nach Tom greifen. Mit einem Kribbeln im Bauch dachte dieser wieder an den Mörder, den er letzte Nacht vor dem Fenster gesehen hatte. Vermutlich trieb der sich irgendwo hier im Nebel herum und wartete nur darauf mit einem Messer auf die Feldkellers loszugehen. Mörder und Räuber lebten schließlich im Wald. Das hatte er aus Robin Hood gelernt.
Nach einer Weile hielten sie in einer schmalen Einbuchtung und Papa schaltete den Motor aus. Sofort war es totenstill und Tom blickte ängstlich durch die Frontscheibe, wo die Scheinwerfer des Wagens noch immer wie zwei milchige Balken in den Wald stachen.
„Na dann los“, sagte Papa und schaltete das Licht aus. Dann öffnete er die Tür und der Nebel drang in den Wagen wie eiskalter Dampf.
Das Trieb Familie Feldkeller aus dem Auto. Schon nach wenigen Schritten war der Wagen hinter ihnen im Dunst verschwunden und Tom stapfte neben seiner Schwester durch den Morast.
„Findest du es wirklich sinnvoll nach dieser Nacht eine Wanderung im Nebel zu unternehmen?“, hörte er Mama scharf flüstern, die immer versuchte alle Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und Papa vor den Kindern geheim zu halten.
„Ich wusste ja nicht, dass es so schlimm wird“, verteidigte Papa sich mit gesenkter Stimme. „Es wird schon noch besser werden.“
Tom lauschte noch eine Weile der Diskussion und versuchte nicht mehr an sein Erlebnis der letzten Nacht zu denken. Doch natürlich wusste er, dass das eigentlich nicht ging. Denn je mehr man versuchte nicht an eine bestimmte Sache zu denken, desto mehr saugte sich genau diese Sache im Verstand fest.
Also dachte er an Curly, der das beneidenswerte Privileg genoss alleine in Tante Edeltruds Anwesen zu liegen und außer Fressen und Pipi machen keine größeren Aufgaben zu bewältigen hatte.
Diese Geschichte ist noch in Bearbeitung