Flugzeug

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Menschen wurden geschaffen, um geliebt zu werden.
Dinge wurden geschaffen, um benutzt zu werden.
Der Grund, wieso diese Welt im Chaos ist:
Ist weil Dinge geliebt, und Menschen benutzt werden.

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Komplette Geschichte

Naomi schlug die Augen auf. Sonnenstrahlen blitzten durch die Löcher des Blechdaches und blendeten sie. Sie hielt schützend die Hände vor das Gesicht und drehte den Kopf zur Seite. Normalerweise schlief sie niemals tagsüber, doch in der Nacht hatte sie für ihre kleine Schwester eine Doppelschicht in der Mine übernommen. Tracy plagte schon seit Tagen eine Krankheit und sie sollte eigentlich neben ihr liegen. Erst wenige Stunden zuvor hatte Naomi sie in den Schlaf gesungen, bevor sie selbst etwas Ruhe gefunden und sich an sie gekuschelt hatte.
Aber jetzt lag eine ungewöhnliche Stille über der Hütte.
Sie wäre normalerweise noch ein Weilchen liegen geblieben, doch trieb sie die Sorge um Tracy auf die Beine. Als sie sich von ihrem spärlichen Schlafplatz erhob, begann es in ihrem Kopf zu pochen. Stechende Hitze strahlte von dem Wellblech auf ihr krauses Haar. Sie zupfte benommen an ihrem Shirt herum, das wie ein Lappen an ihrem dürren Körper klebte. Schon die kleinste Bewegung trieb ihr den Schweiß auf die Stirn.
Sie sah sich um, als Schritte über den staubigen Boden vor der Hütte trappelten. Kurz darauf wurde die Plastikplane vor dem Eingang zur Seite geschoben und Tracy steckte ihren Kopf durch die Öffnung. Ihre großen braunen Augen weit geöffnet, und so mager, dass es Naomi innerlich zerriss sie so zu sehen.
»Wo hast du gesteckt?«, fragte sie vorwurfsvoll. »Du kennst doch die Regeln. Kranke Menschen bleiben zu Hause.« Aber ihr Ärger verflog, als Tracy ihr in die Arme lief.
»Draußen ist etwas«, rief sie und ihre Fingerspitzen gruben sich tief in Naomis Shorts.
Besorgt hockte Naomi sich vor ihrer Schwester auf den Boden und ein wehmütiges Lächeln schlich sich in ihr Gesicht.
»Was ist denn da?«, fragte sie und wischte ihr mit dem Finger etwas Dreck von der Wange.
Doch Tracy antwortete nicht, sondern zog Naomi hinaus in eine Gasse. Hier reihte sich Hütte an Hütte und Blechdach an Blechdach.
Normalerweise dröhnten zu dieser Stunde die Geräusche schwerer Arbeit durch den Sektor, denn den Großteil ihrer Zeit verbrachten die Menschen in Saba West bei der Mine. Mit Sprengladungen schlugen die Männer tief unter Tage Monazit aus dem Gestein, während Frauen und Kinder es an der Oberfläche abtransportierten und weiter verarbeiteten. Die dazu notwendigen Chemikalien verätzten ihre Lungen und ließen ihre Haut fahl werden, aber Naomi hatte es als ihr Schicksal akzeptiert.
Aber seit einigen Momenten schien der Sektor in einen Schlaf gefallen zu sein. Keine Maschine war zu hören, und weder Rufe noch Schreie drangen an ihre Ohren.
Unsicher folgte sie ihrer Schwester durch die flirrende Hitze die Gasse hinauf. Fast hatte sie Schwierigkeiten ihren trippelnden Schritten durch den Staub zu folgen.
Schließlich erreichten sie einen Dorfplatz, wo in den späten Abendstunden gemeinsam gegessen oder gewaschen wurde. Dahinter erstreckte sich der Sektor bis in die Ferne, wo sich auf einer kahlen Erhebung die Konturen eines Förderturmes abzeichneten. An dem Fuße des Hügels lag eine dicht bebaute Ebene aus Hütten, zwischen denen sich ein Geflecht aus Gassen durch das gesamte Viertel schlängelte.
Naomi brauchte einige Augenblicke, bis sie sich an das grelle Licht gewöhnt hatte.

Der Platz lag fast verlassen vor ihr. Kaum ein Dutzend Menschen war hier versammelt, und sie alle starrten unverwandt in dieselbe Richtung. Mit gereckten Hälsen deuteten sie in den Himmel nach Westen.
Naomis Blick saugte sich dort an einem schwarzglänzenden Objekt fest. Je länger sie es betrachtete, desto mehr erstarrte sie innerlich zu Eis. Sie hörte auf zu atmen, zu fühlen, zu denken. So musste sich Sterben anfühlen.
Was vor dem diesigen Blau des Himmels schwebte, war ein Flugzeug. Wie ein riesiges Insekt lauerte es über dem Stollen, getragen von gleißenden Triebwerken, die es lautlos in der Schwebe hielten.
Sie spürte, wie sich die Haare auf ihrer dunklen Haut aufstellten und instinktiv drückte sie die Hand ihrer Schwester noch etwas fester.
»Was ist das?«, fragte Tracy, doch Naomi reagierte nicht.
Sie hatte schon oft Flugzeuge gesehen. In weiter Ferne zogen sie ihre täglichen Bahnen über Saba West und erzählten von einem Leben außerhalb des Sektors. Doch schotteten Mauern aus Stahlbeton sie von dieser Welt ab. Einer Welt, über die sie nichts wussten und über die man sich nach langen Tagen Geschichten erzählte.
Aber so nah wie heute waren die Flugzeuge noch nie herangekommen und das konnte nur bedeuten, dass Saba West der Welt nicht genügt hatte.
Wie hypnotisiert haftete ihr Blick noch immer an dem Rumpf des Flugzeuges. Kaum wagte sie zu atmen, als könnte sie der Zeit den Treibstoff abdrehen und das verhindern, was jetzt folgte.
Doch dann öffnete sich eine Luke im Rumpf des Flugzeuges und ein Ding fiel hinaus. Kaum zu erkennen stürzte es vor dem grellen Himmel durch die Lüfte und verschwand schließlich im Schacht der Mine.
Naomi konnte die Spannung in der Luft förmlich auf der Haut knistern spüren. Wie ein elektrisches Feld lag sie über dem Platz.
Eine Frau in ihrer Nähe schlug erschrocken die Hände vor den Mund, als ein Schlag durch den Boden zuckte, und Saba West wie bei einem Erdbeben erschüttert wurde. Einige der Menschen auf dem Platz stießen erschrockene Rufe aus, doch alle blickten noch immer hinauf zu der Mine, wo drei von Naomis Brüdern zusammen mit ihrer Mutter zu einer Schicht eingeteilt waren.
Sie gab einen gepressten Laut von sich, als der Förderturm explodierte. Qualm wurde in den Himmel gespien, durchsetzt von gleißendem Feuer. Immer mehr quoll aus dem Krater hervor, sprudelte wie Magma bei einem Vulkanausbruch in die Höhe und bildete eine dichte Wolke, aus der glühende Asche herabregnete, die wie eine Lawine alles unter sich begrub. Die Flammen überfluteten Maschinen, Arbeiter und Lagerstätten und drangen bis in die hintersten Winkel vereinzelter Hütten am Fuße des Hügels.
Eine heiße Front vor sich herschiebend wurden sie von einer Druckwelle getroffen und die Luft begann zu flattern. Immer stärker schwoll das Rauschen an und verwandelte sich in einen Donner, der ihren Unterleib zum Vibrieren brachte. Das Blech der Hütten um sie begann zu scheppern und dichter Qualm verdunkelte die Sonne.
Als habe das Geräusch die Menschen aufgeweckt, stoben sie auseinander. Die meisten flohen in die entgegengesetzte Richtung und verschwanden kreischend in den Gassen. Doch einige schienen viel zu irritiert zum Handeln.
Ein junger Mann in Naomis Nähe deutete aufgebracht nach Osten.
»Dort ist noch eins«, rief er und rannte auf sie zu, sodass sie zur Seite springen musste, um nicht angerempelt zu werden. Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können starrte sie ihm nach und entdeckte das zweite Flugzeug. Es war lautlos von der Ostmauer des Sektors herangekommen und glitt langsam auf sie zu.
Eine Idee, die sich unterhalb der Schwelle ihrer bewussten Wahrnehmung gebildet hatte, nahm plötzlich Gestalt an und sie löste sich aus ihrer Schockstarre. Mechanisch packte sie Tracy am Handgelenk und zog sie in die Richtung der Explosion.
»Renn!«, rief sie, und gemeinsam überquerten sie den menschenleeren Platz. Als Tracy stolperte und der Länge nach auf die Erde schlug, blieb Naomi hastig stehen.
»Schnell weiter!«, sagte sie und zog ihre Schwester zurück auf die Beine, hinein in eine breite Gasse. Noch nie hatte sie ihren Weg zur Mine so hastig begonnen.
Während sie liefen, kamen ihnen immer mehr Menschen entgegen. Zu Hunderten stürmten sie an ihnen vorbei, doch konnten die angstverzerrten Gesichter Naomi nicht von ihrem Plan abhalten.
Sie zuckten zusammen, als hinter ihnen ein zweiter Einschlag ertönte. Ohne sich umzusehen, liefen sie weiter, den Blick auf die Rauchsäule über der Mine gerichtet. Das erste Flugzeug glitt über der Gasse hinweg. Kurz stand es genau über ihnen, aber Naomi achtete nicht darauf, sondern zwang sich den Blick nicht von ihrem Ziel abzuwenden. Doch wurden die Schritte ihrer kranken Schwester immer unsicherer.
»Halt durch!«, schrie Naomi, voller Angst Tracy könnte erneut stolpern. Die Atemzüge ihrer Schwester waren kurz und abgehackt, doch hielt sie tapfer durch.
Eine Gruppe älterer Jungs kam ihnen entgegen. Verärgert schubste einer von ihnen Tracy aus dem Weg. Sie gab einen spitzen Schrei von sich und fiel. Die Arme zum Schutz ausgestreckt schlug sie auf den Boden.
Sofort blieb Naomi stehen und half ihr auf.
„Rasch, weiter“, sagte sie, aber Tracy rührte sich nicht.
»Was ist mit Mama?« Sie klammerte sich an Naomis Bein fest. Doch diese löste sich sofort von ihr und kniete sich auf den Boden.
»Hör zu. Wir müssen weiter. Es ist nur noch ein kleines Stück« Sie unternahm einen vergeblichen Versuch ihre Schwester zum Laufen zu animieren.
Doch dann regnete plötzlich Feuer auf sie herab. Klumpen einer klebrigen Flüssigkeit klatschten auf den Boden und liefen wie brennendes Öl an den Wänden der Hütten hinunter.
Hastig sprangen sie in eine Seitenpassage. Die Augen zusammen gekniffen warteten sie auf das Ende. Aber wie durch ein Wunder versiegte der Ascheregen sofort wieder und ein Gestank nach verbranntem Benzin durchsetzte die Luft.
»Weiter«, rief Naomi und zog Tracy zurück auf die Gasse, die sich inzwischen mit Qualm füllte.
Dadurch war das Vorankommen noch schwerer geworden. Rauchschwaden zogen an ihnen vorüber und sie atmeten Luft, die sich schwer und klebrig anfühlte in ihren Lungen.
Naomi stolperte über etwas, fing sich und sah zurück. Eine Frau lag auf dem schwarzen Boden, getroffen von einem der Klumpen. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt und glänzte wächsern, als läge sie in den Wehen.
»Sieh nicht hin!«, rief Naomi und zog Tracy am Arm die Gasse entlang.
Zwei weitere Explosionen donnerten durch Saba West. Fast blind waren sie inzwischen. Nach Luft schnappend stolperten sie die Gasse hinunter und erreichten schließlich noch einen Platz.
Hier wurden Transportmaschinen gelagert. Naomi wusste das, denn in den letzten Wochen war sie für die Verfrachtung des Erzes in die Raffinerie an der Westmauer eingeteilt gewesen.
Zwei der Fahrzeuge standen brennend im Zentrum des Platzes. Flammen schlugen aus den geborstenen Fenstern der Pickups. Doch dann erblickte sie einen alten Humvee, der noch nicht von der Asche getroffen war.
»Da rein!«, rief sie und ließ Tracy los. Keine Sekunde Zeit durften sie verlieren. Als sie das Fahrzeug umrundete pulsierte ihr Körper bis in die letzte Faser. Vor lauter Adrenalin hatte sie kaum gemerkt, wie sehr sie nach Luft rang.
Sie stieß ein Dankgebet zum Himmel, als sie den Schlüssel im Schloss entdeckte. Sie stieg ein und trat die Kupplung durch.
»Bitte spring an«, flehte sie und betätigte die Zündung. Der Motor erwachte spuckend zum Leben. Auch Tracy war in der Zwischenzeit neben ihr aufgetaucht und klammerte sich hustend an ihren Arm.
»Halt dich fest«, rief Naomi und trat das Gaspedal durch. Der Humvee machte einen Satz nach vorne und sie lenkte ihn weiter nach Westen. Immer näher zu dem Fuße des Hügels. Eine flaue Übelkeit stieg in ihr auf. Alles schien sich zu drehen. Die Gasse war inzwischen fast vollständig mit Rauch gefüllt. Tränen schossen ihr in die Augen, doch trotzdem zwang sie sich langsam genug zu fahren.
Durch einen Schleier konnte sie das Ende der Gasse bereits erahnen. Sie beschleunigte etwas und der Humvee polterte über Stock und Stein hinaus aus der Enge des Viertels.
Gierig sogen sie die Luft ein und erschauderten, als der Boden erneut zu beben begann.
Ein weiterer Schlag hatte den Sektor erschüttert, gefolgt von einem Rattern. Irritiert sah Naomi zwischen den Rauchschwaden zu einem der Flugzeuge empor. Fast wirkte es, als fände in der Luft ebenfalls ein Kampf statt.
Vor ihnen lag jetzt der brennende Hügel, und Naomi lenkte den Humvee vorbei an einigen Wracks in Richtung der Südgrenze. Von hier konnte man eine Betonmauer in der Ferne erkennen, die sich monolithisch in den Himmel erhob. Ein nicht zu überquerendes Hindernis.
Wenn es überhaupt eine Chance gab den Sektor zu verlassen, war es das Südtor. Den Ort wo am Ende jeden Monats die kostbaren Stoffe abgeholt wurden, die sie in der Raffinerie gewannen.
Doch selbst wenn sie es bis zum Tor schafften, gab es auch hier keine Möglichkeit zu entkommen. Mit dem Humvee auf die andere Seite durchzubrechen, glich einer sinnlosen Kamikaze. Sie erinnerte sich daran, wie einige Männer einmal versucht hatten mit einer Schremmmaschine einen Durchgang in den Stahl zu fräsen. Doch dieser Versuch war nach weniger als einer halben Stunde gescheitert, weil eine Drohne plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war und drei von ihnen tödlich verwundet hatte.

Sie blickte zu den Flugzeugen empor. Zwischen Schwaden aus Nebel konnte sie sie in der Ferne erkennen. Und fast als hätten die Piloten ihre Blicke gespürt, änderten sie ihren Kurs und schwebten zurück zur Mine. Tracy hielt sich noch immer krampfhaft an ihrem rechten Arm fest. Ihre braunen Augen schauten aus dem verschmutzten Gesicht zu ihr hinauf. Darin lag ein panischer Glanz.
Naomi riss den Blick von ihr los und zwang das Gaspedal bis auf den Wagenboden. Immer wieder musste sie rauchenden Trümmern ausweichen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis eines der Flugzeuge sie erreicht hatte. Bis eine weitere Bombe fiel. Bis Naomi mit ihrer Schwester unter einer Lawine aus Feuer begraben wurde.
Sie konnte die Blicke der Piloten oben in der Luft im Rücken brennen spüren. Wusste, dass sie es jetzt auf sie abgesehen hatten. Ihr Fahrzeug war ein leichtes Ziel.
Doch gab es keine andere Möglichkeit, als einfach weiter zu fahren, die Augen wie gebannt auf das Tor geheftet.
Ein ohrenbetäubendes Zischen ertönte hinter ihnen. Es näherte sich schnell und Naomi konnte im Rückspiegel erkennen, wie eines der Flugzeuge etwas abgeschossen hatte. Und es würde sie treffen. Würde ihr kleines Leben vernichten. Würde Tracy und sie in eine andere Welt schicken. Naomi riss das Lenkrad herum. Der Humvee brach nach links aus. Tracy war bis jetzt ruhig geblieben. Doch jetzt fing sie an zu kreischen. Ihre Fingernägel schnitten in Naomis Arm, als sie beide zur Seite geschleudert wurden. Aber das Fahrzeug überschlug sich nicht. Nur Schmutz und Asche wurden durch die Luft gewirbelt.
Mit rasenden Herzen beobachteten sie, wie die Rakete über ihnen hinwegschoss.
Naomi trat auf die Bremse und sah, wie das Geschoss sein Ziel erreichte. Zerfetzte das Südtor, dessen Strahlstreben wie Streichhölzer in alle Richtungen flogen. Das konnte kein Zufall sein! Der Humvee kam ruckelnd zum Stehen. Der Motor erstarb und sie blickte auf die Stelle des Einschlags.
Und als sich der Rauch verzogen hatte, war da ein Loch in der Mauer. Fast wie das Portal zu einer anderen Dimension kam es ihr vor. Ein Durchgang in eine Welt, die nicht für sie bestimmt war.
Ohne lange zu überlegen, startete sie den Motor und lenkte den Humvee an dem Wrack eines Transporters vorbei. Erneut nahmen sie Fahrt auf, doch hatten die beiden Flugzeuge sie inzwischen erreicht.
Es ratterte hinter ihr. Dieses Mal viel näher.
Fontänen aus Sand schlugen aus dem Boden. Das Tor kam immer näher.
»Duck dich!«, schrie sie Tracy zu, die ihr Gesicht in Naomis Arm gedrückt hatte.
Jeden Moment erwartete sie einen erneuten Angriff. Die nächste Salve musste sie treffen. Doch dann schoss der Humvee durch das brennende Südtor. Als würden sie durch einen Schlund aus Feuer fahren, erreichten sie eine weite Ebene aus kupferfarbenen Sand. Üppiger Dschungel schimmerte am Horizont. Doch eine blutige Stimme in ihrem Inneren bestätigte, dass er viel zu weit entfernt war, um dort Schutz zu suchen.
Es ratterte erneut. Dieses Mal fast genau über ihnen. Und dieses Mal wurden sie getroffen. Naomi kniff die Augen zusammen, als der Seitenspiegel explodierte. Splitter aus Glas zerschnitten ihr Gesicht. Mit einem dumpfen Geräusch platzte ein Reifen. Das Heck des Humvees brach aus und schlitterte auf den Felgen über den Boden. Tracy schrie, ihre kleinen Finger lösten sich von Naomis Arm. Niemals würde sie dieses Gefühl vergessen. Wie ein grausiges Engramm grub sich die Erinnerung in ihr Gedächtnis, als sie zum letzten Mal den matten Druck dieser zarten Fingerkuppen spürte. Sie stieg auf die Bremse, aber es half nichts.
Es ratterte wieder. Glas splitterte und Fetzen des Sitzpolsters flogen durch die Luft. Ihr linker Arm wurde brutal nach vorne gerissen. Eine Sonne aus Schmerz explodierte in ihrem Ellenbogen. Blut spritzte gegen die Frontscheibe, aber sie nahm es kaum wahr. Sie sah nach Tracy, doch saß sie nicht mehr neben ihr. Noch energischer trat sie auf die Bremse. Wollte umkehren. Wollte nach ihrer kleinen Schwester sehen. Aber sie konnte das Lenkrad nicht mehr bewegen. Der Motor starb und der Humvee kam zum Stehen.
Und dann spürte Naomi, wie ihr schwindelig wurde. Immer weiter driftete sie in eine dunkle, unbekannte Welt. Eine ferne Explosion rollte über das Feld. Doch drang all das nur gedämpft in ihr Bewusstsein. Alle Kraft wich aus ihrem Körper.
Wie eine Stoffpuppe stürzte sie aus der Fahrertür in den glühenden Sand. Mit den Gedanken bei Tracy öffnete sie noch ein letztes Mal die Augen.
Und blickte in einen brennenden Himmel.

Das war das erste von dreißig Kapiteln meiner Geschichte „Neue alte Welt“. Es gibt einen extra Blog, wo ich nur an dieser Geschichte unter einem Pseudonym schreibe. Ich schicke euch gerne die URL, falls es jemanden interessiert. Testleser, die mir konstruktive Kritik geben sind ebenfalls immer willkommen.