Das Ticket
Es geht weiter nach Thailand. Hier wird schon seit letztem Jahr Bhumibol Adulyadej beweint. Der ehemalige König des Landes. Die Thailänder tragen Trauer und das hat Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Die Tempel sind mit schwarzen Bannern geschmückt, Webseiten und Anzeigetafeln dürfen nur noch in Grautönen dargestellt werden und an fast jeder Hauswand prangen Gemälde des Halbgottes. Bhumibol wurde vom Volk geliebt. Maha, sein Nachfolger, tritt in Fußstapfen, die er zu füllen niemals im Stande sein wird.
Doch trotzdem nehme ich auch die Thailänder als unglaublich herzliches Volk wahr. Hilfsbereit, gastfreundlich und offen werden wir in diesem Land empfangen. Und schon zum dritten Mal müssen wir an der Grenze aufpassen all unser Geld auszugeben, bevor es im neuen Land wertlos wird.
Als erstes geht es nach Phuket, eine Halbinsel im Süden des Landes. Auf dem Weg dorthin durchqueren wir Ao Phang, einen Landstrich mit keilförmigen Felsen, die sich aus dem Ozean in den Himmel schrauben. Ich fühle mich wie auf Pandora.
Die Fahrt hier her ist schön, denn neben mir sitzt Leander, ein jugendlicher Deutscher, mit dem wir uns super unterhalten können. Es tut gut noch einmal mit einem Menschen zu lachen, der einen nicht für total bescheuert hält.
Doch Anna scheint es nicht zu gefallen, dass ich mich auch gut mit Leander verstehe und kurz bevor wir in Phuket eintreffen erzählt sie aus heiterem Himmel ich sei homosexuell.
„Wie kommst du denn jetzt darauf?“, frage ich amüsiert.
„Naja, also als Mann kann ich dich jedenfalls nicht ernst nehmen“, sagt sie, „allein was du für schwule Hobbies hast. Reiten, Kochen, Yoga, Tanzen. Ich kenne eigentlich nur schwule Typen, die sowas gerne machen.“
Doch weil Leander dabei ist finde ich die Situation sogar irgendwie lustig. Meine Hobbies sind schließlich wirklich etwas androgyn. Am liebsten würde ich jetzt erzählen, Anna würde paradoxerweise auch glauben ich wolle sie ihrem Freund ausspannen. Doch ich will lieber kein Öl ins Feuer gießen.
Abends gehe ich früher schlafen doch das bereue ich später, denn sobald Anna mit Leander alleine ist, erzählt sie ihm was für ein unangenehmer Artgenosse ich bin.
„Ihm ist das ebenfalls aufgefallen“, beteuert sie am nächsten Morgen, „ich brauchte einfach mal jemanden, wo ich mich ausheulen kann und er hat mir in allen Punkten zugestimmt.“
Ich versuche gar nicht mehr Leanders Respekt zurück zu gewinnen. Peinlich berührt stelle ich mir vor, wie Anna ihm am Vorabend mit Tränen in den Augen und wackelnder Oberweite alle meine Sünden aufzählt.
„Ja jah“, spricht Leander vor meinem inneren Auge, den Blick hypnotisch auf ihren Ausschnitt gerichtet, „dieser David muss ein ganz ganz schrecklicher Mensch sein.“
Doch zumindest kann Anna sich jetzt mit Leander beschäftigen, weswegen ich endlich mal alleine sein kann. Jetzt habe ich tatsächlich schon eine volle Woche ununterbrochen Zeit mit ihr verbracht. Ich könnte verschwinden und alleine weiter reisen. Doch dann würde ich mein Versprechen brechen und Anna vermutlich zur Gänze in die Katatonie treiben. Und obwohl sich alles in mir dagegen sträubt sie auch nur anzusehen, bleibe ich bei ihr.
Und langsam merke ich, wie die ständige Anspannung mir an die Nerven geht. Ihre kleinen Sticheleien sind wie eine chinesische Folter. Leicht aber über einen langen Zeitraum wirkungsvoll.
Abends buchen wir einen Flug nach Hanoi und sind schon wenige Stunden später im Norden Vietnams. Auf dem Flug rede ich nur noch die wichtigsten Dinge mit Anna und antworte ihr auch sonst nicht. Die letzten Tage muss ich erst mal verdauen.
„Bist du etwa schon wieder angepisst?“, fragt sie, „Jetzt sei doch nicht schon wieder angepisst.“
Doch natürlich kann ich da jetzt auch nichts dran ändern.
„Wohin müssen wir jetzt?“, will sie am Terminal von mir wissen.
Ich zucke mit den Schultern.
„Keine Ahnung, lass mal der Menschenmenge da folgen“, schlage ich vor und schlurfe einer Gruppe quasselnder Vietnamesen hinterher.
Anna wirft aufgebracht die Hände in die Luft.
„Lass mal der Menge folgen“, äfft sie mich nach, „sowas kann ich ja leiden. Hat bei Hitler ja auch suuuper geklappt.“
Ich bin zwar nicht sicher, inwiefern sich „Hitler folgen“ mit „Menschen an einem Flughafenterminal folgen“ vergleichen lässt, doch irgendwie habe ich auch kein gutes Gegenargument.
Nach einer Weile finden wir ein Taxi und fahren in unser Hostel in Hanoi. Der Stadt mit dem schlimmsten Verkehr der Welt.
22.000 Menschen sterben in diesem Land jährlich im Straßenverkehr. Eine Statistik, die sich gewaschen hat. Ampeln werden ignoriert, Regeln gibt es keine. Für alle, die das nicht glauben habe ich ein kleines Video gemacht:
Auf dem Weg zum Bahnhof wird mir klar, wie emotional entladen ich bin. Wie ein Zombie schlurfe ich am nächsten Morgen neben Anna her und kann mich kaum auf den Beinen halten. Ich habe noch nie zuvor erlebt, wie es ist tagelang kritisiert zu werden. Und dieser Dschungel aus Beton und Lärm macht das alles nicht wirklich besser. Es ist heiß und schwül hier.
Am Terminal angekommen müssen wir ein Ticket kaufen. Für 30$ kann man über Nacht nach Đà Nẵng fahren. Zahlt man noch 10$ drauf bekommt man sogar ein besseres Bett. Ich habe inzwischen schon zwei Nächte nicht mehr schlafen können und lege 40$ auf den Tisch. Doch Anna gefällt das scheinbar nicht.
„Ich zahle doch nicht 40$, wenn ich auch günstiger da runter komme“, sagt sie.
Doch ich bin entschlossen in der folgenden Nacht einmal gut zu schlafen.
„Schlaf Du doch in einem 30$ Abteil und ich gehe in die höhere Klasse“, sage ich und will gerade bezahlen als Anna mich am Arm auf eine Bank zieht.
„Ich schlafe mit Sicherheit nicht alleine in einem vietnamesischen Nachtzug“
Das kann ich nachvollziehen.
„Ok, dann musst Du jetzt wohl 10$ drauf zahlen.“
Doch leider prallen alle Argumente an ihr ab und sogar als ich vorschlage ihr die 10$ aus eigener Tasche zu erstatten, beharrt sie auf ihrem Willen.
„Weißt du, was ich glaube, David?“, sagt sie, „Ich denke du fühlst dich in deiner Ehre gekränkt und willst jetzt mal zeigen, dass du auch Eier in der Hose hast. Ich wette es ist dir eigentlich vollkommen egal in was für einem Abteil wir schlafen. Du willst jetzt nur deinen Willen durchsetzen, weil du mir zeigen willst, was für ein Kerl du wirklich bist.“
Ich versuche ihr zu erklären, wie müde ich bin und dass es hier wirklich nicht um mein Ego geht. Doch Anna bleibt hart und ich kann sie schließlich auch nicht zwingen. Ich entschließe mich das Ticket einfach gegen ihren Willen zu kaufen. Als ich aufstehen will zieht sie mich erneut zurück. Ihr Kopf hat inzwischen die Farbe eines gut durchgerührten Kirschyogurts angenommen.
„Ich kann einfach nicht FASSEN mit was für einem ignoranten BABY ich hier unterwegs bin. Du hast keinerlei soziale Kompetenz und bist so wenig anpassungsfähig, wie ich es noch NIE erlebt habe. Du bist so ein BEMITLEIDENSWERTER Wicht, wie er mir zuvor noch nie begegnet ist…“, doch irgendwie halte ich es nicht länger aus. Wie ein Smartphone, dessen Akku bei 1% steht, kann ich einfach keine Energie mehr für Anna aufbringen. Ich stehe entschlossen auf, bemüht dabei nicht hinzufallen und zeige ihr den Mittelfinger. „Fick Dich!“
Ziemlich schnell verlasse ich den Bahnhof. Ich kann mir nicht vorstellen auch nur eine weitere Sekunde mit Anna zu verbringen. Noch nie war ich so wütend und verletzt zugleich. Damit sie es nicht schafft mir zu folgen, verschwinde ich vor dem Terminal im dichten Straßenverkehr. Motorroller, Menschenmassen und Autos fliegen an mir vorbei. Wenn ich gleich einer von den 22.000 bin, soll mir das auch recht sein. Nach einer Weile fange ich an zu rennen und es passiert etwas Unerwartetes. Das grässliche Gefühl von Wut und Verletzung fällt von mir ab und ich spüre wie eine Welle aus Triumph und Adrenalin durch meinen Körper gepumpt wird. Endlich hat sie mir genug Gründe geliefert sie sitzen zu lassen. Bis hierher und nicht weiter. Und jetzt war ich sie endlich los. Sollte sie doch alleine schauen, wie sie zurecht kam. Ich hatte noch drei herrliche Wochen Vietnam vor mir. Neue Leute, Strände, alte Ruinen. Das alles lag noch vor mir und Anna würde mir nicht eine dieser Sachen kaputt machen.
Ich flüchte zurück ins Hostel. Zu meiner großen Erleichterung ist sie noch nicht da.
„Wie sollte sie auch?“, kichere ich, „die hat viel zu große Möpse um so schnell zu sein wie ich.“
Ich raffe meine Sachen zusammen und stopfe alles in meinen Rucksack. Mir egal, wenn ich die Übernachtung schon bezahlt habe. Mal eine Nacht ohne Anna zu verbringen erscheint mir inzwischen wie der Himmel auf Erden. Vor dem Hostel verschwinde ich wieder in der Menschenmasse.
Doch leider ist meine Adrenalindusche schnell wieder vorbei und ich fühle mich matt und gestresst. Naja, Hotels gibt es hier zumindest genug.
Erleichtert falle ich kurze Zeit später in meinem neuen Zimmer auf die Matratze.
Und schlafe ein.
Der Edelstahltisch
Zwei Stunden später wache ich auf und fühle mich als sei mir im Schlaf ein Elefant auf den Kopf getreten. Ich habe jetzt das Bedürfnis jemanden aus meiner Familie anzurufen. Während Anna etwa jede Stunde einen Hotspot braucht, um ihrer Mutter einen detailgenauen Statusbericht über ihr Wohlbefinden abzuliefern, werde ich mich jetzt zum ersten Mal zu Hause melden.
Ich robbe schlaftrunken über mein Bett und taste nach meinem Smartphone. Irgendwo hatte ich das blöde Ding doch hingeworfen. Als ich den Flugzeugmodus nach Tagen noch einmal ausschalte, treffen etwa hundert Nachrichten auf einen Schlag ein. Und ein halbes Dutzend verpasster Anrufe von unbekannten Nummern. Oha, wer will denn jetzt so dringend was von mir?
Doch die Frage wird schnell beantwortet, denn plötzlich treffen von drei verschiedenen Nummern SMS ein:
– „David, Anna ist in Schwierigkeiten und braucht SOFORT deine Hilfe, melde dich und geh an dein Handy!“
– „Anna wartet im Hostel auf dich und ist krank und ihr Handy ist kaputt, du musst ihr sofort helfen.“
– „DAVID???? MELDE DICH!!! Wo steckst du? Anna hat Angst und ist ganz allein. Ich mache mir Sorgen!“
Und auch wenn die Absender sich nicht vorstellen ist mir schon klar, dass das vermutlich ihre Mutter und ihr Freund sein müssen.
Ich werfe mein Handy zurück aufs Bett und gehe aufgebracht in meinem Zimmer auf und ab. Bevor ich eingeschlafen war erschien mir alles noch so einfach. Ich hatte mir fest vorgenommen Anna ihrem Schicksal zu überlassen. Doch jetzt wo ich nicht mehr so überreizt bin, bekomme ich doch irgendwie ein schlechtes Gewissen. Was wenn Anna tatsächlich in Schwierigkeiten steckt?
Sie hatte mir oft genug gesagt, wie wenig sie sich vorstellen kann alleine unterwegs zu sein und Hanoi war mit Sicherheit auch nicht der sicherste Ort der Welt. Auf der anderen Seite hatten wir schon jüngere Frauen hier getroffen, die ebenfalls alleine zurecht kamen.
Ich frage mich, was eine schlauere Version von mir jetzt wohl tun würde. So eine Art David 2.0, der immer genau weiß, wo es langgeht. Diese Situation war einfach zu vertrackt für mich.
Ich verlasse mein Hotelzimmer um einen klaren Kopf zu bekommen. Doch das klappt nicht so recht, denn draußen erwartet mich wieder das Chaos der Großstadt. Mein Handy vibriert weiterhin alle paar Sekunden, weil entweder Freund, Mutter oder der Nikolaus mir panische Nachrichten senden.
Außerdem kommen mir ganz komische Gedanken. Ich stelle mir vor, wie ein schwarzer Lieferwagen in Schrittgeschwindigkeit neben Anna fährt. Hinter dem Steuer ein Triade, der von seinem Boss einen Auftrag bekommt.
„Wie wäre es, wenn diesem kleinen Blondchen heute Abend ein Unfall zustößt?“, sagt dieser mit dem Grinsen einer Kanalratte. Doch der dumme Triade schaut verständnislos.
„Bei allem Respekt Boss, wir sollten nicht warten, bis ihr tatsächlich ein Unfall passiert. Wir sollten sie viel lieber selber entführen.“ ^^
Und kurze Zeit später liegt Anna dann auf einem Edelstahltisch im Keller eines italienischen Restaurants. In meiner Vision läuft sogar noch Blut die Wände runter. Und sie ist als nächste dran. Alles nur wegen mir.
Scheiße, mir bleibt wohl keine Wahl.
Ich muss zurück.
Ich stürze mich in den nicht enden wollenden Strom aus Motorrollern. Es ist nicht leicht unser Hostel wieder zu finden, denn es dämmert schon und die Stadt verwandelt sich immer mehr in ein Meer aus rasenden Lichtern. Doch nach dreißig Minuten bin ich zurück und betrete unser Zimmer.
Anna liegt im untersten Teil eines Hochbettes. Davor hängen einige ihrer Sachen als Sichtschutz. So vorsichtig als ob ich eine Bombe entschärfen will schiebe ich zwei Handtücher zur Seite und sehe sie da liegen. Irgendwie erinnert sie mich an Graf Dracula in seinem Sarg. Eingefallene Wangen, blasses Gesicht, wirres Haar. Nur ihre Augen passen nicht ganz in das Bild. Denn die schauen tränenverschmiert ins Leere.
„Hallo Anna“, sage ich und setze mich auf mein eigenes Bett.
„Hallo David“, antwortet sie kaum hörbar, „danke, dass du zurück gekommen bist.“
Ok, ich war auf alles gefasst gewesen. Auf eine keifende Muhme Rumpumpel, die versucht mir die Augen auszukratzen, auf ein wildes Monstrum, was mich mit einem Kleiderbügel verprügeln möchte oder auf Schlimmeres. Doch mit einem Dankeschön habe ich nicht gerechnet.
Und das rührt mich jetzt irgendwie.
„David, ich will dir was erzählen“, sagt Anna und spricht dabei so leise, dass ich sie kaum hören kann. Es folgen einige Ausführungen über schwere Sachen, die sie erlebt hat. Schwerere als ich sie hätte ertragen können.
Ihre Erzählung endet folgendermaßen: „David ich kann hier nicht alleine sein. Ich schaffe das nicht. Ich kann niemals alleine in einem Zimmer hier schlafen. Das geht einfach nicht. Bitte, bitte, bitte bleib bei mir. Ich habe solche ANGST.“
Ich muss darüber etwas nachdenken, doch eigentlich hätte sie mir ihre Geschichte gar nicht erzählen müssen. Schon ihr Anblick hat mir klar gemacht, wie wenig es noch in Frage kommt ohne sie weiter zu reisen.
„Ok“, sage ich schließlich, „lass mich nur kurz zurück ins Hotel gehen und meine Sachen holen. Ich habe auch auf dem Weg hier her ein Geschäft gefunden, wo Du Dir ein neues Handy kaufen kannst. Das wird schon wieder.“
Anna will jetzt noch von mir umarmt werden und alles scheint gut zu sein zwischen uns. Und tatsächlich ist sie heute die freundlichste Person der Welt.
Hätte ich zu diesem Zeitpunkt gewusst, was noch passieren würde, ich hätte Anna gnadenlos zum nächsten Flughafen gebracht.
Der Klumpen
Es geht weiter in den Süden. Hier liegt die kitschige Stadt Đà Nẵng. Als wir dort eintreffen sind alle Straßen mit bunten Lichterketten geschmückt und zu allem Überfluss blinken die auch noch. Ein bisschen so wie Weihnachten in der Dönerbude, denke ich mir, und schaue fasziniert aus dem Fenster des Busses. Doch bevor wir von hier nach Hoi An weiter reisen, machen wir noch einen Abstecher in die Marble Montains. Eine Tempelanlage südlich der Stadt.
Das Leben der Mönche hier ist ruhig und wird nur von den täglichen Besuchern unterbrochen. Ich muss an die Geschichte denken, die erzählt, wie drei Europäer in Asien einen meditierenden Yogi treffen und ihn fragen: „Meister, was ist das Geheimnis Deines Glücks? Du lebst hier ohne den Luxus der Zivilisation und bist dennoch so zufrieden.“
Doch der Yogi lächelt nur und antwortet: „Wenn ich gehe, dann gehe ich. Wenn ich sitze, dann sitze ich und wenn ich esse dann esse ich.“ Verwirrt darüber sagt einer der Touristen: „Aber das tun wir doch ebenfalls!“
Der Yogi schüttelt den Kopf: „Nein, wenn ihr geht, dann denkt ihr ans Sitzen. Und wenn ihr sitzt, so denkt ihr ans Aufstehen. Und wenn ihr esst, so denkt ihr schon darüber nach, was ihr danach tun möchtet.“ Fast beneide ich das einfache Leben der Menschen hier.
Als wir auf dem Rückweg zum Bus sind, merke ich plötzlich wie wenig ich nur gegessen habe. Und schon wird die Prophezeiung wahr, denn beim Gehen kann ich jetzt nur noch ans Essen denken. Anna hat leider keinen Hunger, sodass ich etwas darum kämpfen muss sie zu überreden nach einem Straßenstand zu suchen. „Aber beeil dich dann mit dem Essen“, mault sie, „ich will den Bus nicht verpassen.“
Doch zu meiner Enttäuschung gibt es hier keinen einzigen Straßenstand. Alles einsam und verlassen hier. Nur Marmorfiguren mit Hakenkreuzen drauf kann man kaufen. Doch so großen Hunger habe ich dann doch wieder nicht.
Als ich meine Suche schon fast aufgegeben habe, entdecke ich in der Ferne noch einen Straßenstand. Super! Doch als wir dort eintreffen finde ich nur eine ältere Frau hinter einem großen Blechkessel. Mit langsamen Bewegungen rührt sie darin herum. Ziemlich skeptisch nähern wir uns dem Szenario und beobachten, wie in unregelmäßigen Abständen schleimige Klumpen an die Oberfläche der Suppe schwappen.
„Hahaha“, kichert Anna, „das willst du jetzt aber nicht im Ernst essen.“ Ich schaue der Frau noch eine Weile zu und wäge meine Optionen ab. Entweder kann ich noch ein paar Stunden warten bis wir in Hoi An sind und dort was richtiges Essen. Oder aber ich wage den Versuch und kaufe ein Brötchen mit Schleimklumpen.

Während ich noch am Überlegen bin hält mit quietschenden Reifen ein Wagen hinter uns. Ein grinsender Mann steigt aus und begrüßt die Frau enthusiastisch. Dann nestelt er eine Weile in seiner Geldbörse herum und zieht schließlich behutsam einige Scheine heraus. Die Frau nimmt das Geld entgegen und überreicht ihm einen großen Sack mit bereits fertigen Brötchen. Das ist ja fast wie bei McDonalds.
Gut, diese Dinger sind also tatsächlich essbar. Und der Kerl hat wohl gerade den Fang seines Lebens gemacht. Wenn der das also isst, so kann ich das auch. Doch natürlich interessiert mich schon, was genau das ist.
Ich deute auf den Topf mit der komischen Suppe und frage: „Sorry, what exactly is that?“
Die Frau lacht herzlich. „Đây là những con sứa!“
Ich höre nur Kauderwelsch. „Ähh…, I do not speak vietnamese. Can you tell me, what this is?“
Doch natürlich kann die Frau mir nicht helfen und resigniert überreiche ich ihr einige Dong. Glücklich über den Handel klatscht sie ein paar der Schleimbatzen auf das Brötchen.
Anna kann kaum fassen, was hier geschieht und kichert hysterisch: „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Ich würde das niemals essen.“
Ich presse die Lippen zusammen und nehme meine Mahlzeit entgegen. Ich habe ja schon auf vielen Reisen Dinge ausprobiert, doch an das hier kommen eigentlich nur die Cuchillanos aus Mexiko dran. Und an denen bin ich ja auch nicht gestorben.
Aber immerhin hat Anna jetzt etwas zu Lachen und meckert mal nicht rum. Belustigt schaut sie mir zu, wie ich in das Brötchen beiße. Ich kaue auf dem zähen Schleim herum, der ein bisschen wie feste Götterspeise mit Fischgeruch schmeckt. Hoffentlich bekomme ich davon keinen Durchfall.
Wir schlendern lachend zurück zur Haltestelle, wo der Bus nach Hoi An gerade eingetroffen ist. Und als ich mein Brötchen fertig gegessen habe, bin ich irgendwie ziemlich stolz.
Hoi An ist die schönste Stadt, die ich auf meiner Reise durch Südostasien zu Gesicht bekomme. Hier feiert man einmal im Monat das „Vollmondfest“. Ein Event, was jeder Tourist erlebt haben muss. Tausende Lampions werden hier in den Straßen aufgehängt und auf dem Fluss schwimmen dutzende kleiner Lichter. Das ist so viel besser, als der bunte Kitsch in Đà Nẵng.
Wir laufen abends fasziniert durch die Gassen und schauen uns die kleinen Lädchen an, in denen aufdringliche Verkäufer uns ihre Waren anpreisen. Für Anna ist das hier ein Paradies, denn sie liebt es Souvenirs zu kaufen und shoppen zu gehen. Daher ist ihre Laune hier auch besser und wir verstehen uns ganz gut. Für ihren Freund sucht sie ein passendes Geschenk und weil sich das gar nicht so einfach gestaltet, gehen wir abends (ohne fündig geworden zu sein) zurück in unser Hostel.
Doch nach einem erneuten Shoppingmarathon am nächsten Tag fangen ihre Sticheleien schon wieder an. Sie hat sich inzwischen überlegt, wie sie zurück nach Bangkok reisen möchte und stellt mich vor vollendete Tatsachen.
Weil wir inzwischen noch nie länger als zwei Tage an einem Ort verweilt haben, wünsche ich mir etwas mehr Ruhe zum Ende unserer Reise. Doch Anna will so viel wie möglich sehen und plant die komplette Strecke zurück nach Thailand mit dem Bus.
„Das ist mir ehrlich gesagt etwas heftig“, sage ich, „wir sollten lieber den letzten Abschnitt fliegen, damit ich noch etwas Urlaub bekomme. So richtig erholsam war unsere Reise ja bisher nicht.“
„Dazu habe ich aber keine Zeit“, beharrt Anna auf ihrer Meinung. Ich frage mich, ob ich mich auf ihren Plan einlassen soll. Wir haben schließlich in zwei Wochen von Singapur bis hier her tausende Kilometer zurück gelegt und viel zu selten einmal Zeit zum Ausruhen gehabt.
„Also ich habe da schon Zeit für“, antworte ich, „du kannst ja gerne deinen Plan alleine durchziehen aber ich fliege das letzte Stück von Kambodscha.“ Ich sehe wie sehr Anna sich jetzt zusammen reißen muss nicht schon wieder auszurasten. Wie ein aufgebrachtes Rhinozeros stampft sie neben mir her. Wir betreten das Terminal des Bahnhofs, wo bald unser Zug nach Ho-Chi-Minh-Stadt abfährt.
„Aber du warst doch auch von Anfang an mit dem Plan einverstanden“, sagt sie und ihre Kiefer malmen dabei aufgebracht hin und her.
„Nee, ich habe gesagt wir können mal gucken, wie es läuft“, antworte ich, „und es ist jetzt bisher nicht so super stressfrei gelaufen.“
Ich merke schon wieder, wie mein Puls steigt. Inzwischen werde auch ich viel schneller sauer auf Anna und bereite mich innerlich auf einen erneuten Kampf mit ihr vor. Ich schlage vor die Diskussion später fortzusetzen, wenn sich die Lage abgekühlt hat.
Wir sitzen also eine ganze Weile, beide mit unseren eigenen Gedanken nebeneinander und die Katastrophe scheint zunächst abgewendet.
Doch Anna will schließlich doch weiter darüber reden und beginnt erneut mich mit Gegenargumenten zu überschütten.
„Sorry, aber das läuft nicht“, sage ich, „bisher habe ich mich ja gerne an dein Reisetempo angepasst, aber ich fände es einen guten Kompromiss es ab jetzt anders zu machen.“
Und dann tickt Anna doch noch aus.