Der Psychopath
Wir alle haben schon einmal ein Déjà-vu erlebt. Eine fremde Situation, die uns auf gruselige Weise bekannt vorkommt. Weniger bekannt, jedoch von größerer Bedeutung, ist ein Jamais-vu. Etwas, was wir gut zu kennen glauben, erscheint uns plötzlich fremd. Unsere Perspektive verändert sich und wir sehen es auf einmal mit ganz anderen Augen. Genau das erlebe ich auf den 18 Stunden Zugfahrt in die vietnamesische Stadt Saigon.
Ich liege mit offenen Augen in der obersten Schlafkoje und starre an die Decke. Unter mir höre ich das regelmäßige Rattern der Gleise. Wir sind jetzt schon fast vier Stunden unterwegs und Anna ist neben mir längst eingeschlafen. Gut so, denke ich, denn mit der will ich nie wieder ein Wort reden.
Erneut konnte ich mir eines ihrer Pamphlete darüber anhören, wie geistig zurückgeblieben ich doch sei.
Kochend vor Wut stieg ich in den Zug und liege jetzt hier. Doch statt mich über Anna zu ärgern, geschieht etwas Merkwürdiges. Ich stelle mich selbst in Frage. Vor mehr als zwei Wochen hatte ich das letzte Mal Kontakt zu einer Person, die mich achtet. Dieses wundervolle Leben kommt mir inzwischen wie ein Traum vor.
Eigentlich hatte ich mich immer als sehr selbstsicher eingeschätzt. Doch schon ein Blondchen wie Anna schafft es, all meine Souveränität ins Wolkenkuckucksheim zu befördern. Ich frage mich, was große Persönlichkeiten an meiner Stelle tun würden.
Der Dalai Lama würde vermutlich die ganze Zeit verklärt lächeln und mit dem Kopf nicken.
Jesus würde ihr jeden Tag aufs neue vergeben und zwischendurch einen Spaziergang auf dem Mekongdelta machen.
Und Mohammed? Der hätte sie vermutlich entweder geheiratet oder geköpft. Oder erst geheiratet und dann geköpft. Oder wie auch immer.
Ich höre ein Geräusch und schaue von meinem Hochbett auf den Boden des Abteils. In der vordersten Ecke sitzt David 2.0. Er ist größer als ich, hat breite Schultern und weiß immer genau, was zu tun ist. Außerdem mag Anna ihn.
„Ich kann dir auch nicht helfen“, sagt er, „Mich gibt es doch gar nicht.“ Er steht auf und verlässt das Abteil. Toll, jetzt bin ich wieder allein.
Zähneknirschend wälze ich mich den Rest der Nacht hin und her und kann einfach keinen klaren Gedanken fassen. Dann wird mir zum ersten Mal bewusst, wie wichtig die Anerkennung anderer Menschen für mich ist. Bis heute glaubte ich immer, es sei mir gleichgültig, wie andere über mich denken. Ich war doch David und machte mein Ding schon allein. Doch das war ein Irrtum. Was mir diesen Urlaub so verhagelte waren gar nicht Annas Animositäten. Es war vielmehr ihre taxierende Art. Sie gab mir fast ununterbrochen das Gefühl, eine viel schlechtere Version von mir selbst zu sein.
Was konnte ich dagegen tun? Sie sich selbst zu überlassen war keine Option mehr. Doch vielleicht konnte ich sie anders zähmen. Als ich sie in Hanoi am Bahnhof stehen gelassen hatte, war sie danach einige Tage nett zu mir gewesen. Vielleicht ließ sich dieses Verhalten ja reproduzieren.
Schlafen tue ich in dieser Nacht zwar nicht, doch zumindest verstehe ich endlich mein grundlegendes Problem. Und als wir aussteigen habe ich einen Plan.

Saigon ist der alte Name von HồChí Minh-Stadt. Der größten Metropole in Vietnam. Früher war es Hauptstadt von Südvietnam. Heute noch immer florierendes Wirtschaftszentrum. Wir steigen aus und werden von demselben chaotischen Verkehr empfangen, wie ich ihn schon aus Hanoi kenne. Zwischen all den Motorrollern und Autos fühle ich mich, wie in einem Ameisenhaufen.
Auf meinem Handy habe ich ein paar Hostels markiert und erkläre Anna wo wir hin müssen. Anfangs laufen wir noch gemeinsam, doch steigere ich meine Geschwindigkeit immer weiter. Neben mir kommt sie ziemlich ins Schwitzen, denn sie hat durch all ihre Souvenirs deutlich mehr Gepäck als ich.
„Können wir vielleicht etwas langsamer machen?“, schnauft sie als ich schon einige Meter vor ihr laufe. Doch genau das möchte ich natürlich nicht und gehe noch schneller. Wir überqueren einen Kreisel und Anna kämpft sich mit rotem Kopf durch das Meer aus Rollern. Hat sie gerade etwas gerufen? Egal. Es hupt und trötet um mich herum und als ich den riesigen Kreisel überquert habe, blicke ich noch einmal zurück. Anna steht trotzig auf einer Verkehrsinsel und bewegt sich nicht mehr.
Scheinbar will sie mich dazu zwingen zu ihr zurück zu kehren. Doch obwohl ich ein schlechtes Gewissen habe, gehe ich einfach weiter. Nach etwa hundert Metern blicke ich noch einmal zurück und sehe, wie Anna sich wieder in Bewegung setzt. Ihre Verschnaufpause scheint also doch vorbei. Und kurz darauf passiert endlich, was ich möchte und wir haben uns verloren. Scheinheilig gehe ich noch mal ein paar Meter zurück und tue so, als wollte ich Anna wieder finden. Doch ist das gar nicht der Plan. Sollte sie ruhig etwas herumirren.
Kurz darauf habe ich ein Hostel gefunden. Anna hat mir schon eine gepfefferte Nachricht geschickt: „Christlich erzogen von deinen Eltern? Ich lache obwohl ich Schmerzen im Fuß habe weil ich umgeknickt bin als du vor mir weggerannt bist wie ein Kleinkind! Zum 2x!“
Doch auch von ihrer Ihre Mutter habe ich Post: „Anna sitzt mit umgeknicktem Fuß alleine da. Wo bist du? Warum lässt du sie allein? Melde dich SOFORT!“
Ich schreibe, Anna habe sich das mit dem Fuß nur ausgedacht um mich zu manipulieren, doch Bibi Blocksbergs Mutter wird jetzt erst richtig böse auf mich.
Vermutlich hätte die sich inzwischen wohler gefühlt, wenn ihre Tochter mit Frankenstein höchstpersönlich einen Ausflug nach Transsilvanien unternommen hätte. Etwas lustlos gebe ich mein Gepäck im Hostel ab und mache mich auf den Weg in ein Café, wo Anna auf mich wartet. Bisher funktioniert mein Plan ganz gut. Bevor ich ankomme, frage ich mich ob sie die Geschichte mit ihrem Fuß nur erfunden hat, um mich unter Druck zu setzen. Doch als ich das Lokal betrete, sitzt Anna ziemlich angesäuert in einer Ecke. Ihr Bein demonstrativ auf einen Hocker gebettet.
„Was du meiner Mutter geschrieben hast, war jetzt aber nicht dein Ernst, oder?“, sagt sie als ich mich setze.
Ich gehe gar nicht darauf ein. „Ich werde ab jetzt ohne Dich weiter reisen“, sage ich, „ich kann Dir ein Taxi rufen und dann geht es zum Flughafen.“
Sie macht den Mund auf, doch bevor sie antwortet schließt sie ihn wieder. Ich kann förmlich hören, wie sie nachdenkt. Nachdem wir uns einige Zeit angestarrt haben, fragt sie: „Wieso bist du denn jetzt schon wieder angepisst?“
Scheinbar hat sie ihre Rede vom Vortag total vergessen.
„Anna“, sage ich, „Auf dieser ganzen Reise habe ich mich Dir immer angepasst. Ich habe in glühender Hitze Souvenirs mit Dir gesucht, habe alle Sachen für Dich getragen, habe fast alles Geld für Dich abgehoben und habe mir täglich Deine Monologe angehört. Das war auch okay. Doch Deine ständige Kritik kann ich einfach nicht mehr aushalten. Gestern wollte ich Wäsche waschen. Doch Du bist nicht mal bereit für drei Minuten mit zu kommen, um sie abzuholen, weil Du es ‚dumm‘ findest wenn ich waschen möchte. Vorher war ich drei Stunden shoppen mit Dir.“
Annas Kiefer klappt während ich spreche immer weiter nach unten. Sie scheint keinen meiner Vorwürfe zu verstehen.
„Ich wasche eben unter der Dusche“, sagt sie.
Ich unternehmen noch einen letzten Versuch Anna klar zu machen, wo mein Problem mit ihr ist. „Ich finde shoppen gehen auch dumm. Ich habe es aber trotzdem getan, weil es Dir wichtig ist. Ich hinterfrage Deine Bedürfnisse nicht, sondern gehe darauf ein. Das sollte auf Gegenseitigkeit beruhen.“
Der Streit geht noch ein paar mal hin und her, doch Anna ist so borniert wie ein russisches Schlachtschiff.
„Weiß du, was ich glaube?“, sagt sie und setzt die Miene einer Therapeutin auf, „Du bist ein Psychopath. Du hast kein Mitgefühl gezeigt, als du mich in Hanoi alleine gelassen hast. Und jetzt ist dir mein verletzter Fuß ebenfalls total egal.“
Ich weiß jetzt gar nicht mehr, was ich sagen soll. Lethargisch blicke ich auf die blanke Tischplatte vor mir. Doch Anna scheint stolz auf ihre Schlussfolgerung und plappert munter weiter: „Allein wie du schon immer guckst. Das ist ganz typisch für solche Menschen. Du brauchst dringend Hilfe, David. Ganz dringend professionelle Hilfe.“
„Okay, ich gehe jetzt“, sage ich im Aufstehen, „buch Deinen Rückflug oder komm alleine klar.“
Und dann geschieht endlich, worauf ich warte. Anna knickt ein. Ihre Mundwinkel erschlaffen, ihr Blick senkt sich und als ich Anstalten mache das Lokal zu verlassen, folgt sie mir auf wundersame Weise. Von ihrer Fußkrankheit spontan geheilt.
„David, ist ja schon gut. Jetzt setz dich wieder. Ich habe einen Vorschlag.“
Und dann ist sie wieder das kleine Mädchen. Endlich hat es geklappt.
Sie verspricht mir mich ab jetzt nicht mehr zu kritisieren und nett zu mir zu sein. Außerdem lässt sie sich auf meinen Plan ein von Kambodscha nach Bangkok zu fliegen. In diesem desolaten Zustand hätte sie sich vermutlich mit mir verlobt, um nicht alleine weiter reisen zu müssen. Als ich mich schließlich umstimmen lasse, muss ich noch eine Umarmung über mich ergehen lassen. Und für die nächsten Tage habe ich eine zahme Anna an meiner Seite.
Doch Zuckerbrot und Peitsche sollten nicht lange funktionieren. Mir stand noch Schlimmeres bevor.
Die Banane
Unsere Reise führt uns an den Mekongdelta. In Cần Thơ, werden wir Zeugen des berühmten Floating Market. Schon um fünf Uhr früh legen wir mit einem kleinen Boot ab und erleben einen der faszinierendsten Teile der Reise. Schon bald ist der Fluss kaum noch zu erkennen, sondern gleicht einem bunten Gewusel verschiedener Schiffe. Das Leben spielt sich auf dem Wasser ab. Ich empfehle jedem sich bei Google Bilder dieses Ereignisses anzusehen. An kaum einem Ort der Welt lässt sich so viel auf Booten kaufen. Es gibt Früchte, heiße Suppe, Elektrogeräte, Schmuck und sogar eine schwimmende Tankstelle.
Bevor es weiter nach Châu Đoc geht, verbringen wir fast einen ganzen Tag auf dem Wasser. Unser nächstes Ziel ist es nach Kambodscha einzureisen. Schon früh am nächsten Morgen stehen wir auf und werden von einem Fahrradtaxi zu einem Speedboat gebracht. Die Bootsfahrt führt uns zu einer kleinen Grenzkontrolle, wo wir für 30$ ein Visum erhalten.

Der Mekong ist einer der längsten Flüsse der Erde und schlängelt sich durch sechs Länder. Reisen findet auch hier zu großen Teilen auf dem Wasser statt. Diesem Trend folgen wir und durchqueren das halbe Land. Das alles wäre vermutlich sehr schön, wenn ich nicht wüsste wie sehr Anna mich inzwischen verabscheut. Jede Minute stelle ich mir vor, wie schön es wäre mit jemand anderem hier zu sein. Anna verkneift sich fast alle zynischen Kommentare, doch zu oft merke ich, wie sie die Lippen zusammenpresst um sich nicht erneut über irgendeine Bagatelle aufzuregen.
Schließlich treffen wir in Siem Reap ein. Die Ortschaft ist das Tor zur alten Stadt Angkor. Auf fast 200 Quadratkilometern kann man hier alte Ruinen erkunden und viel über die Kultur der Khmer lernen.
Am bekanntesten ist Angkor Wat, das größte heilige Gebäude der Welt. Wer Südostasien bereist, sollte diesen Ort auf keinem Fall verpassen.
Um Anna bei Laune zu halten, darf sie seit Saigon alle Entscheidungen treffen. Mir ist nur noch wichtig, die letzten Tage unserer Reise ohne weitere Strapazen zu überleben.
Auch unser Hostel hat sie ausgesucht. Als ich uns durch die schmalen Gassen navigiere, dringt schnell Musik an meine Ohren. Wie es scheint ist in unserer neuen Unterkunft Dauerparty angesagt. Doch ich würde vermutlich eher dreißig Quallenbrötchen essen, als eine erneute Diskussion mit Anna zu beginnen.

Auf dem Weg zu unserem Zimmer kommen wir an einem Pool vorbei. Tätowierte, durchtrainierte Typen laufen hier herum. Jeder von ihnen hat entweder eine Bierflasche oder eine dürre Tussi an seiner Seite. Was für mich dystopisch ist, muss für Anna der Himmel auf Erden sein. Es riecht nach Dope und Nagellack.
Während Anna sich frisch macht, versuche ich herauszufinden, wie wir am nächsten Tag nach Angkor kommen. So kann ich der lauten Musik zumindest für eine Stunde entrinnen. Ich hätte nicht wenig Lust alles hier ohne Anna zu machen, doch kann sie scheinbar nicht alleine sein.
Als ich in der flimmernden Hitze ein Mototaxi nach dem anderen abklappere, merke ich erst wie indisponiert ich mich fühle. Mein Kopf pocht, alles fühlt sich heiß an und irgendwie ist mir auch übel. Obwohl Anna keine erneuten Ausraster hatte, hat mir ihre Abneigung in den letzten Tagen kräftig zugesetzt. Ich muss dringend irgendwo hin, wo ich mich wohl fühle. Doch ins Hostel kann ich nicht, denn da warten nur Gedröhne und Anna auf mich. Und hier draußen ist es nicht sehr gemütlich. Die Welt um mich her erscheint mir zunehmend düsterer. Alles fühlt sich irgendwie hart an. So wie in einem Albtraum, aus dem ich nicht aufwachen kann.
Ich finde eine abgemagerte Katze und spiele etwas mit ihr. Vermutlich hat die auch Tollwut, doch das ist mir egal. Alles in mir will nur ein Lebewesen treffen, was mir nicht böswillig gesonnen ist. Und diese Katze mag mich zumindest.
„Miau“, sage ich und komme mir vor, als sei ich obdachlos.
„Hey, in fünf Tagen ist das alles vorbei“, höre ich David 2.0 sagen. Er ist lässig gegen eine Steinmauer gelehnt und schlürft einen Cocktail. Der Typ hätte in unserem Hostel vermutlich schnell Freunde gefunden.
Als ich aufstehe streicht mir die Katze um die Beine. Ein Auto brettert vorbei, einen Anhänger mit Hühnern im Schlepptau. Die Katze verschwindet panisch in einem Hauseingang.
Durch heißen Staub geht es zurück. Verzweifelt versuche ich mich zu ermuntern und denke an zu Hause.

Ich denke an das Pferd auf dem ich vor fünf Wochen noch geritten bin. An mein Büro, wo ich jeden Tag begeistert Codezeilen schreibe. An meine Familie und Freunde. Hatte ich mir das alles nur eingebildet? Vielleicht war ich ja wirklich total der Psycho.
Ich hätte gerne jemanden aus Deutschland angerufen. Hätte meinem Vater gerne erzählt, wie ich mich fühle. Doch war die Situation zu vertrackt, um sie in Worte zu fassen. Ich wusste ja nicht einmal, wo genau das Problem lag.
Zurück im Hostel gehe ich früh schlafen. Doch eigentlich liege ich nur im Bett herum und spüre wie meine Matratze vom Bass vibriert. Erst um halb drei dreht jemand die Musik leiser. Doch laut ist es bis in die frühen Morgenstunden. Anna ist draußen und hat wohl Freunde gefunden. Gut für mich, denn so kann ich auch weiterhin alleine sein und mich selbst bemitleiden.
Am nächsten Tag schauen wir uns Angkor an. Anna erzählt mir begeistert, wie toll ihr letzter Abend war. „Die Typen, die ich getroffen habe waren echt witzig“, sagt sie stolz als wir eine alte Pyramide erklimmen, „ich war echt total betrunken, aber es hat sich gelohnt.“ Sie kichert.
Von den ominösesten Fahrzeugen lassen wir uns von einer Ruine zur nächsten kutschieren und ich fühle mich etwas besser. Jetzt waren es nur noch vier Tage.
Vor dem letzten Tempel steht ein angeleinter Elefant. Darüber prangt ein krakeliges Schild: „Elephant ride: 20$!“
Begeistert fange ich an in meiner Tasche zu kramen. Auf einem Elefanten wollte ich schon immer mal reiten. Ich will gerade einen Bündel Scheine herausziehen, als Anna mich mitleidig anschaut.
„Schau dir mal diesen armen Elefanten an“, sagt sie, „jeden Tag von Touristen gequält. In meinen Augen sind alle Unmenschen, die auf so ein Angebot eingehen.“
Ich setze einen so unschuldigen Blick wie möglich auf und schiebe meine Hand vorsichtig zurück in die Tasche. Dann gab es wohl doch keinen Elefantenritt für mich. Naja, sonderlich glücklich sieht der Dickhäuter wirklich nicht aus.
In der folgenden Nacht müssen wir in ein anderes Zimmer umziehen. Ich höre im Bett ein Hörspiel während Anna draußen auf ein Neues feiern geht. Durch die Ablenkung komme ich nervlich wieder etwas runter und schlafe daher besser. Und das obwohl alle paar Minuten irgendein Typ beim Betreten oder Verlassen des Zimmers mit der Tür gegen das Bettgestell schlägt.
Um zwei Uhr morgens werde ich außerdem von einem wilden Tohuwabohu vor meiner Tür geweckt. Leute kreischen und das hört sich gar nicht gesund an. Vielleicht war ja eine der dürren Tussis durchgebrochen. Oder ein tätowierter Kerl hatte in den Pool gekotzt. Doch kurz darauf stürmt jemand ins Zimmer und brüllt aus voller Kehle: „IT’S PARTYTIME!“, und aus irgendeinem Grund hämmert er immer wieder die Tür gegen mein Bettgestell. Auf nonchalantere Weise war ich noch nie zum Tanzen aufgefordert worden. Genervt kringle ich mich in die andere Richtung und warte bis der Störenfried sich verzogen hat.
Am nächsten Morgen flimmert es die ersten Stunden vor meinen Augen. Noch nie war ich so gestresst. Wir möchten uns die „Floating village“ ansehen. Eine Ortschaft, die mich genauso fasziniert wie Cần Thơ. Die Menschen haben Pfahlbauten errichtet, die in der Trockenperiode nur durch lange Leitern erreicht werden können. Ein bisschen wie Baumhäuser ohne Bäume. Erst in der Regenzeit tritt der Tonlé Sap über die Ufer und überschwemmt alles. Ab diesem Zeitpunkt müssen die Kinder mit Booten zur Schule gebracht werden. Trotz meiner Unpässlichkeit, bin ich fasziniert.

Nach einigen Stunden kommen wir mit unserem Boot bei einem schwimmenden Restaurant an. Angeboten werden exotische Speisen. Frösche, Quallensalat und Krokodil. Als wir uns setzen, kommt ein dünner Asiate angespargelt. Ich bestelle mir das Krokodilmenü. Voll cool!
Während wir warten, schaue ich mir fasziniert ein schwimmendes Gehege mit kleinen Alligatoren an. Träge liegen sie in der Sonne und warten auf ihr unvermeidbares Schicksal.
Zurück an unserem Tisch ist Anna mit unserem Restgeld am wirtschaften. Es muss nur noch einen Tag reichen, denn danach geht es mit dem Flugzeug zurück nach Thailand. Skeptisch zählt sie die Scheine. „Tja, ich fürchte wir haben nicht mehr genug Geld, um Essen und Souvenirs zu kaufen“, sagt sie und schiebt mir einen Bündel Scheine zu. Ich ziehe meine Kreditkarte aus der Tasche und wedle damit vor ihrem Gesicht rum. „Ja und? Heben wir halt noch mal neues Geld ab.“
Doch Anna gefällt das nicht. „Geld abheben kostet aber fast 5€ hier.“
Naja, so war das halt auf Reisen. Doch Anna besteht darauf eine andere Lösung zu finden. Sie rümpft die Nase. „Ich finde wir sollten einfach morgen mal auf Essen verzichten. Ich habe ja noch Kekse.“
Doch für Anna jetzt eine Keksdiät einzulegen, geht mir dann doch etwas zu weit. „Sorry, aber ich will schon was Richtiges kaufen. Verzichte doch auf deine Souvenirs. Du hast doch schon genug.“
Ihre Lippen kräuseln sich bevor sie antwortet: „Aber noch keine aus Angkor!“
Ich denke eine Weile darüber nach ob ich wirklich vor habe einen Tag für Anna zu fasten. War ja auch irgendwie gesund hatte ich gehört.
Auf der anderen Seite habe ich für sie auch schon zwei Nächte in dem Horrorhostel ausgehalten.
„Also Deine Kekse in allen Ehren“, sage ich, „aber ich hebe mir heute Abend einfach eigenes Geld ab und bezahle die 5€ ganz unabhängig von unserem Budget. Kauf Dir deine Souvenirs aber lass mich bitte was essen.“
Im Hintergrund sehe ich wie David 2.0 wild mit den Händen gestikuliert. Scheinbar hat sogar er Angst vor einem neuen Wutanfall.
„Du hättest kein teures Krokodil bestellen sollen“, sagt sie trotzig, „Hätte alles noch super ausgereicht.“
„Ich kann so viele Krokodile essen wie ich will“, antworte ich, „es ist mein Geld.“
Anna fängt an mir einen Vortrag über den richtigen Umgang mit Finanzen zu halten. Epische Worte für eine Studentin, deren kompletter Hausstand, Auto und alle Urlaube von den eigenen Eltern finanziert werden.
Ich würge sie ab, indem ich einfach aufstehe und auf das Dach unseres Bootes klettere. Das Wasser glitzert in der untergehenden Sonne. Es ist wunderschön hier. Doch alle Schönheit ist wertlos, wenn die Seele ohne Harmonie ist.
Ich merke wie viel Ärger sich in Anna aufgestaut hat und behandle sie auf dem Rückweg, wie eine Ampulle mit Nitroglycerin. Auf keinem Fall möchte ich eine weitere Szene riskieren.
Als wir in Siem Reap fast beim Hostel angekommen sind, entdecke ich einen Stand mit Früchten. Eine hutzelige Frau steht dahinter und lächelt gütig in alle Himmelsrichtungen. Um mir für den nächsten Tag ein Frühstück zu kaufen, zeige ich auf eine Staude Bananen.
„One dollar“, sagt sie. Ich krame einen zerfransten Schein aus meiner Tasche und halte ihn der Frau hin.
Doch bevor sie das Geld nehmen kann, boxt Anna mich in die Rippen. „Ein ganzer Dollar ist viel zu viel“, sagt sie, „denk an unser Geld und handel sie runter.“
Doch ich bin viel zu müde, um noch irgendeine Verhandlung zu führen. Abschätzend beobachtet Anna, wie der Dollar in der Schürze der Verkäuferin verschwindet und ich die Bananen nehme.
„Ich hebe sowieso neues Geld ab“, sage ich und packe die Früchte in meinen Rucksack.
Und dann fängt Anna an zu lachen.
Im ersten Moment denke ich, sie habe irgendwo hinter mir etwas Lustiges entdeckt. Ich drehe mich um, doch da ist nichts. Und obwohl ich nicht verstehe, worum es geht, muss ich irgendwie auch lachen.
Doch nach dreißig Sekunden, neigt Anna sich vornüber und aus dem Lachen wird ein Kreischen. Das war jetzt nicht so amüsant.
„Kann ich Dir irgendwie helfen?“, frage ich und fasse sie vorsichtig an der Schulter. Doch Anna kichert weiter. Ihre Haare hängen wie ein blonder Vorhang herunter, dahinter die gerötete Wangen.
Irritiert gehe ich die Straße ein Stückchen weiter. Das ist irgendwie gruselig. Doch erleichtert stelle ich fest, wie Anna sich auch in Bewegung setzt und mir folgt. Sie hatte also doch noch nicht die Grätsche gemacht.
„Hahaha, David. Du siehst so unglaublich dämlich aus“, sagt sie und wirft den Kopf in den Nacken, als wolle sie Sterne gucken. Ich verstehe gar nichts mehr und laufe etwas schneller. Die laute Musik unseres Hostels ist schon zu hören.
„Du wirfst dein Geld einfach aus dem Fenster raus“, kichert sie, doch den letzten Teil des Satzes kann ich kaum noch verstehen. Die Menschen, die uns entgegenkommen denken vermutlich, ich hätte einen guten Witz gerissen.
Ich frage mich, wann ihr Lachkrampf aufhört, doch Anna bekommt sich bis wir beim Hostel eintreffen nicht unter Kontrolle. „Du bist so dumm. So unglaublich DUMM!“, brüllt sie, „Du bist der dämlichste Psycho, den ich je getroffen habe.“
Doch dann hält sie plötzlich inne und schaut mich besorgt an. Fast ängstlich.
„Bist du jetzt wieder angepisst, David? Wirst du mich wieder alleine lassen?“, fragt sie mädchenhaft und legt die Stirn in Falten. Ihre Manie scheint sich spontan verflüchtigt zu haben.
Doch ich weiß kaum, was ich jetzt noch sagen soll. „Ich bin nur froh, wenn ich Dich zu Hause heil abliefern kann“, sage ich und spüre alles in mir pochen.
„Tut mir leid, ich konnte einfach nicht anders“, sagt Anna und setzt eine mitleidige Miene auf.
Doch dann verzieht sich ihr Gesicht erneut zu einer Grimasse. Sie wendet sich ab und schlägt unkontrolliert mit ihren Händen auf die Oberschenkel. „Es tut mir leid, es tut mir so leid!“, keucht sie, „aber du bist so unglaublich DUMM! Und du siehst nachts so dämlich aus mit deiner komischen Schlafmaske.“ (Das stimmte sogar!)
Ohne auf sie zu achten, gehe ich die Treppe hinauf in unser Zimmer. Doch leider folgt sie mir und beleidigt mich auf dem Weg fast ununterbrochen. Zwischendurch scheint ihr vegetatives Nervensystem zu kontrahieren. Sie schnappt nach Luft, wie eine kreißende Frau. So mussten sich die Menschen bei der großen Lachepidemie in Tansania gefühlt haben. In meiner Erinnerung schmeißt sie sich sogar auf den Boden und spielt Schneeengel im Staub, als sei sie ein albernes Kind. Doch natürlich hätte sie das niemals wirklich getan. Zu viele Keime lauern auf den staubigen Fliesen.
In unserem Zimmer angekommen, steht sie plötzlich hilflos vor unserem Hochbett. „David, sei mir bitte, bitte nicht böse“, sagt sie und schaut mich kläglich an, „aber ich konnte einfach nicht anders. Ich habe die letzten Tage nur ausgehalten, weil ich meiner Familie immer, wenn du etwas Dummes gemacht hast, sofort geschrieben habe. Und dann haben die einfach -„, sie hält inne und schaut links oben ins Leere, „haben die einfach …, geschrieben, wie UNTERBELICHTET du bist!“ Sie gackert erneut los. Kann sich nur auf den Beinen halten, weil sie sich an dem Gestänge des Hochbettes festhält. Ich klettere schockiert in mein Bett. Mehr Schikane konnte ich an diesem Abend einfach nicht mehr absorbieren.
Wie eine beleidigte Leberwurst rolle ich mich zusammen und höre Anna hinter mir immer noch lachen.
„Ich weiß gar nicht wie man dich überhaupt mögen kann“, höre ich sie, „ich kann schon gar nicht mehr einschlafen, weil ich solche ABSCHEU gegen dich hege.“
Sie kichert noch eine Weile vor sich hin, doch irgendwann gluckst sie nur noch. Es wäre mir vermutlich lieber gewesen, sie hätte mir ein blaues Auge geschlagen. Bisher glaubte ich, nur Menschen, die mir etwas bedeuten könnten mich wirklich verletzen. Doch Anna hat es an diesem Tag trotzdem geschafft.
Ein letztes Mal.