Mein Albtraum im Dschungel – Teil 4

Die Lampe

In der Nacht habe ich Albträume. Anna verfolgt mich mit einer Kalaschnikow durch eine asiatische Stadt. Verrückt, wie schnell sich das Leben auf diese Weise wiederspiegelt. Als ich aufwache, ist es kurz vor Mitternacht.
Draußen ist wieder Party und weil Annas Bett leer ist, scheint sie erneut Teil dieser Gemeinschaft geworden zu sein. Es grölt und jodelt um mich herum. Ich stecke mir Kopfhörer in die Ohren und höre mein Hörspiel weiter. Doch ständig verliere ich den Faden und muss zurückspulen um die Handlung zu verstehen. Während Justus Jonas zum fünften Mal genau dieselbe schlaue Bemerkung macht, kehrt Anna ebenfalls zurück und legt sich schlafen. Früher als sonst.
Als ich später wieder einschlafe, habe ich wieder ganz merkwürdige Erlebnisse. Pastellfarbene Bälle wabern um mich herum. Riesengroß und formlos bedrohen sie mich, wie millionenfach vergrößerte Viren. Doch ich kann nicht weglaufen, denn ich bin selbst riesengroß und weich, wie aus Stoff gewebt. Und immer wenn sich zwei der Bälle berühren gibt es ein rauschendes Geräusch. Es hallt ewig nach, und ich weiß der Raum um mich ist unendlich groß.
Als ich wieder aufwache, bin ich schweißgebadet und mir ist kalt. Ich klettere aus meinem Bett und laufe durch die laute Musik eine Etage nach unten. Hier ist ein Badezimmer. Doch alles steht unterwasser, denn Dusche und Toilette sind ein Raum. Ich will mich übergeben, doch klappt das irgendwie nicht. Auf dem Weg zurück in mein Zimmer, kommt mir ein großgewachsener Afroamerikaner entgegen. „Oh man“, sagt er stirnrunzelnd, „you had enough Pardy, didn’t ya?“
„Halt die Fresse“, denke ich mir, obwohl der Kerl eigentlich nur nett war.  Zurück in meinem Bett will ich gar nicht mehr die Augen schließen, denn irgendwie sehe ich immer noch die unförmigen Zellhaufen in meinem Geist. Als die Musik leiser wird, schlafe ich aber doch wieder ein.

Am nächsten Morgen haben wir einen Ausflug in den Phnom Kulen Nationalpark gebucht. Mit einem Bus geht es in den Dschungel. Ich habe mich dazu entschlossen nicht mehr mit Anna zu reden und höre die ganze Zeit nur mein Hörspiel. Was mich allerdings rasend macht ist ihre plötzliche Freundlichkeit. Sie erzählt mir lachend von ihrer letzten Nacht.
„Das ist total die Bumsbude hier“, kichert sie, „du kannst dir gar nicht vorstellen, welche Sachen ich gestern gehört habe.“
Doch obwohl ich kein Interesse an ihren Geschichten über das somatische Fest zeige, plappert sie fröhlich weiter vor sich hin. Als wir im Park ankommen, geht es zu einem Wasserfall. Ich versuche so viel Kontakt wie möglich zu den anderen der Gruppe zu haben, doch klappt das nicht so richtig. Immer wieder taucht Anna neben mir auf und erzählt mir irgendetwas. Unbeschwert wie der singende Frühling.
Sie will gerade ansetzen mir von ihren Kinderwünschen zu berichten, als ich mich verärgert umdrehe. Ich erkläre, wie wenig Lust ich habe mit ihr zu reden und dass sie mich in Ruhe lassen soll.
Verständnislos schaut sie mich an. „Aber David, mit deiner schlechten Laune versaust du uns den ganzen Tag. Sei doch nicht schon wieder angepisst.“
Ich frage mich, wie nah Annas Schaukel früher an der Hauswand gestanden hat, und gehe kopfschüttelnd weiter. Hätte es hier ein Gehege mit Krokodilen gegeben, ich hätte sie vermutlich hinein gestoßen. Unbefangen tänzelt sie vor mir den Weg entlang. Scheinbar ist ihr Herz endlich erleichtert.
Später setze ich mich komplett von unserer Gruppe ab. Vermutlich wäre das Hostel ohne Anna sogar die bessere Alternative zu diesem Ausflug gewesen.

Als wir zurück sind, müssen wir uns für die Abreise fertig machen. Der Flug nach Bangkok geht noch heute Abend. Weil ich keine Reisebestätigung von der Gesellschaft bekommen habe, rufe ich bei Airasia an. Doch die sagen mir, alles sei richtig gebucht.
Als wir im Terminal eintreffen ist Annas Euphorie endlich verflogen.
„Also meine Mama hat gesagt, wenn das mit dem Rückflug nicht klappt, reißt sie dir die Eier ab“, sagt sie und steigt aus dem Tuk-tuk. Ich stecke dem Fahrer etwas Geld zu und bedanke mich. „Oh ja“, antworte ich, „da habe ich bestimmt großen Einfluss drauf.“
Doch glücklicherweise funktioniert alles wie geschmiert. Wenige Stunden später landen wir erfolgreich in Bangkok. Glücklich darüber, dass ich jetzt doch noch irgendwann Vater werden darf steige ich aus dem Flugzeug.
Während wir im Bus zu unserem Hostel sitzen, blättert Anna in ihrem Reiseführer und plant unseren letzten Tag.
„Also den Palast müssen wir uns auf jeden Fall anschauen“, sagt sie und will gerade dazu ansetzen mir etwas vorzulesen, als ich sie unterbreche: „Ich weiß ja nicht, was du erwartest, aber in meinen Augen gibt es kein WIR mehr. Es gibt nur ein DU und ein ICH. Und Bangkok schaue ich mir alleine an. Ohne DICH. Ist das klar?“
Anna stimmt murrend zu. Den Rest der Fahrt schaue ich hinaus in die dunkle Stadt und zähle die Gemälde von Bhumibol Adulyadej. Dem König, dem man aufgrund seiner Heiligkeit nicht mal in die Augen schauen durfte.
Und als ich einige Zeit später im Hostel schlafen gehen darf, ist auch dieser Tag endlich geschafft.

Am nächsten Morgen will ich mich auf den Weg in die Stadt machen, doch traut Anna sich nicht alleine ins Zentrum. Daher muss ich ihre Anwesenheit noch fast eine Stunde ertragen, bevor ich mich vor dem Großen Palast von ihr trenne. Weil es nicht erlaubt ist, sich den Palast in kurzer Hose anzuschauen, kaufe ich mir eine lange Hose mit Elefanten drauf. Vermutlich sieht das ziemlich nach Homofürst aus, aber das Ding war ein gutes Geschenk für meine Schwester.
Ich schaue mir den Palast und noch einige andere Dinge an, doch die meiste Zeit verbringe ich damit im Park auf einer Wiese zu liegen. Es fühlt sich so unglaublich gut an, Anna bald nie wieder sehen zu müssen. Und so vergeht auch der vorletzte Tag mit ihr. Endlich.

Unser Flug nach Deutschland geht sehr früh am nächsten Morgen. Anna hat mich damit beauftragt sie pünktlich um halb fünf zu wecken. Ich stelle einen Alarm am Handy ein, doch werde ich schon bevor der losgeht wach. Pünktlich klettere ich das Hochbett herunter. Unten liegt Anna, schlafend in verdrehter Haltung. Daneben liegen alle ihre Utensilien auf dem Boden verstreut. Draußen ist es noch stockfinster. Ich denke eine kurze Weile darüber nach, wie ich sie am besten wecke. Vermutlich war die eleganteste Variante sie sanft am Arm zu rütteln. Etwas energischer als geplant greife ich zu und schüttel sie ein paar Mal. Doch irgendwie fühlt sich ihr Arm so wabbelig an. Mist! Ich hatte ihr aus Versehen in beide Brüste gegriffen. Die Dinger waren auch wirklich überall. Erschrocken stolpere ich rücklings und trete auf die Lampe, die sie in Hoi An gekauft hat. Es gibt ein nicht zu überhörendes, knatschendes Geräusch. Wie Graf Dracula aus dem Sarg fährt sie aus dem Schlaf in die Höhe. „Bist du gerade auf meine Lampe getreten?“, keift sie.
Wie ein Schuljunge, der seine Hausaufgaben nicht ordentlich gemacht hat, blicke ich schuldbewusst auf den Boden vor mir. Doch die Lampe war scheinbar elastisch genug und hat mein Gewicht gut abgefedert.
„Ähh… nee“, sage ich, „ich würde doch niemals auf… ähh Deine tolle Lampe treten.“
Als ich das Zimmer verlasse steht David 2.0 im Flur und klatscht mir Applaus. Ich hatte Anna nicht einmal wecken können, ohne ein erneutes Ärgernis zu provozieren. Doch es war ja fast geschafft.

Nach einem kurzen Frühstück geht es zum Flughafen. Anna verschickt neben mir eine Sprachnachricht nach der anderen an ihre Familie. Die haben vermutlich inzwischen eine eigene Taskforce gegründet um Anna eine 24/7 Aufmerksamkeitshotline zu bieten. Verständlich, wenn man bedenkt, was sie von ihrem Reisebegleiter erzählt hat. Als wir im Terminal warten, esse ich noch ein paar Nüsse. „David, weißt du eigentlich, wie laut du kaust? Haben dir deine Eltern nicht beigebracht, wie man richtig isst?“, fragt Anna mich entrüstet. Ich versuche die Nüsse leiser zu essen (was gar nicht so einfach ist). Doch vermutlich hat sie recht. Schon meine Schwester meinte immer, man habe den Eindruck eine ganze Hamsterfamilie säße mit zu Tisch, wenn ich gerade meine Rohkost verspeise.
Es folgen die normalen Strapazen des Rückfluges. In Dubai haben wir ein paar Stunden Umsteigezeit, doch nach langem Ausharren erreichen wir endlich deutschen Boden. Papa und Deborah holen uns ab, doch richtig darüber freuen tue ich mich erst, als wir Anna zu Hause abgeliefert haben.
„Ich muss euch was erzählen“, platzt es aus mir heraus, als ich Anna in der Dunkelheit verschwinden sehe, „wie fruchtbar dieser Urlaub war, das glaubt ihr mir nie.“

Die Wirklichkeit

Zhuang Zhou, ein taoistischer Gelehrter, träumte einmal, er sei ein Schmetterling. Dieser Traum war sehr real und veranlasste ihn über Wirklichkeit nachzudenken. Woher wusste er, ob er geträumt habe, er sei der Schmetterling oder ob der Schmetterling geträumt habe, er sei Zhuang Zhou? Tatsächlich konnte er es nicht wissen.
Ich bin Anhänger des Konstruktivismus. Wir alle nehmen über die Sinne Dinge wahr und erschaffen in unserem Gehirn eine eigene Wirklichkeit. Diese Wirklichkeiten unterscheiden sich meist voneinander, doch stimmen sie an relevanten Punkten mit der Welt der anderen überein. Nur deswegen können wir überhaupt mit Menschen in Beziehung stehen.
Doch was passiert, wenn zwei Wirklichkeiten so grundlegend verschieden sind, dass es kaum Berührungspunkte gibt? Genau das, was ich schmerzlich mit Anna erfahren musste.
Paul Watzlawick schreibt in einem seiner Bücher von einem ähnlichen Fall: Ein Mann denkt darüber nach, sich den Hammer des Nachbarn auszuleihen. Noch bevor er fragt, mahlt er sich aus, was sein Nachbar antworten könnte. Vielleicht hatte der gar keinen Hammer? Oder er wollte ihm den Hammer nicht geben? Vielleicht war sein Nachbar ja schlecht gelaunt und schickte ihn fort? Nach langem Überlegen ist der Mann so aufgebracht, dass er schließlich raus geht und dem ahnungslosen Kerl ins Gesicht brüllt: „Behalten Sie doch ihren dämlichen Hammer!“
Genau das muss bei Anna und mir geschehen sein. Sie hatte bis zu unserem Urlaub in einer Wirklichkeit gelebt, in der sie immer bekommen hatte, was sie wollte. Doch viel zu selten, was sie brauchte. Im Nachhinein verstehe ich auch, wieso sie nur mit Kerlen befreundet ist. Frauen durchschauen sich nämlich gegenseitig. Als schöne Frau einen Mann um den Finger zu wickeln ist hingegen ein Kinderspiel.
Ich bin schon oft mit Leuten gereist, habe in Teams mit Menschen aus den verschiedensten Kulturen gearbeitet. Alles hat immer reibungslos funktioniert. Fast mit jedem komme ich gut klar. Mit vielen sogar sehr gut. Doch Anna trieb mich an die Schwelle des Wahnsinns. Wie das genau geschehen konnte, weiß ich nicht. Manche werden vielleicht glauben, ich habe übertrieben. Ich wünschte es wäre so. 🙁
Aufgeschrieben habe ich alles das um mein Erlebnis zu verarbeiten. Und weil ich gerne schreibe.
Anna hier zu deformieren ist nicht meine Absicht. Deswegen habe ich auch ihren Namen geändert und sie bei Facebook blockiert. Somit gibt es keine Möglichkeit mehr über das Internet herauszufinden, wer sie ist. Nur eine handvoll Leute wissen es, und die haben jeweils die Wirklichkeit von mir oder ihr erfahren.
Es wäre interessant einen Blogartikel von ihr zu lesen. Vermutlich würde der heißen: „Meine Klapsmühlenrundfahrt mit David“, oder „Rundreise mit einem Psychopathen“.
Doch vielleicht auch nicht, denn vor einigen Wochen hat sie mich eingeladen um wieder etwas mit mir zu machen. „Ich bin ja nicht nachtragend“, schreibt sie, als sei ich der Aggressor gewesen. Sie scheint bis zum Ende nicht verstanden zu haben, wie sie meinen Jahresurlaub kaputt gemacht hat. David 2.0 hat sich kurz nach unserer Reise auch von mir verabschiedet. „Ich habe wichtige Angelegenheiten im Weißen Haus zu klären“, sagt er und lächelt eingebildet. Meine temporäre dissoziative Identitässtörung ist also auch wieder vorbei.
Heute bin ich nur froh, Anna nie wieder sehen zu müssen.
Und seit dem erscheint mir mein Leben fast doppelt so schön, wie zuvor.

David Elsner, Juni 2017

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