
„Darf ich mit Karte zahlen?“
Die füllige Dame hinter dem Steuer schaut uns an, als habe ich sie gerade aus heiterem Himmel um die Hand ihrer jüngsten Tochter angehalten. Unter dem indigofarbenen Kopftuch sieht sie nicht gerade sehr wohlwollend aus.
Ich zeige ihr meinen leeren Geldbeutel. „Wir hatten noch keine Gelegenheit Bargeld abzuheben“.
Energisch klopft sie auf ihr Kartenlesegerät. Das Ding scheint total im Eimer zu sein. Na toll!
Mitternacht ist schon lange durch und das Taxi steht in einer nicht sehr vertrauenerweckenden dunklen Gasse. Vor uns erhebt sich das Shalimar Park Hotel. Der Name mag zwar imposant klingen, doch weiß ich es besser. Noch immer habe ich die Bewertung im Kopf, die ich gestern gelesen habe:
„Das Zimmer ist unter aller Sau! Schimmel wohin man schaut. Kakerlaken waren vor uns eingecheckt. Kein Bad, nur eine desolate Dusche. Kein Service, nur eine dunkle Ecke, wo man das Frühstück hingeknallt bekommt. Toilettenpapier mussten wir mitbringen. Mein Mann wurde in diesem Hotel krank.“
Naja, Anna wollte es eben billig. Sie ist die etwas genervte Dame, die neben mir sitzt. Und vor uns liegt ein Abenteuer. Oder der bisher schrecklichste Urlaub in meinem Leben. Aber das weiß ich ja jetzt noch nicht.
„Vielleicht können die im Hotel uns etwas Bargeld leihen“, schlägt sie vor. Mir fällt auch nichts anderes ein und ich versuche es. Zu meiner großen Überraschung ist der Portier noch wach. Ein hagerer Mann Mitte dreißig mit kurz gestutztem Vollbart. Neben ihm steht ein nervöser, rundlicher Kerl, der so aussieht, als habe er sich bisher nur von Haribo ernährt.
Hinter den beiden prangen etwa einhundert Bilder von Muhammad bin Raschid Al Maktum, dem Premierminister der Emirate und dem Alleinherrscher von Dubai. Bis auf Mohammed gibt es in diesem Land vermutlich keinen Menschen, dem mehr Ehre gebührt.
Nachdem ich auf Englisch mein Problem mit dem Bargeld erklärt habe, setzt sich der runde Junge in Bewegung. Ich bin zwar nicht sicher, was er genau möchte, doch wedelt er mit den Armen, damit ich ihm folge. Es geht hinaus auf die Straße, am Taxi vorbei und dann in eine dunkle Gasse. Rechts und links stehen dampfende Mülltonnen, in den Ecken Unrat und fast trete ich in eine tote Ratte. Ich hoffe der Typ hat nicht den Auftrag mich zu exekutieren, doch macht er irgendwie einen zu niedlichen Eindruck.
Nach ein paar Minuten präsentiert er mir einen Geldautomaten, der meine Karte stotternd entgegennimmt. Nach einigen Geräuschen, die irgendwie an einen Aktenvernichter erinnern, kommt aber tatsächlich ein Packen Geldscheine zum Vorschein. Echte Dirham. Geschafft.
Wenige Minuten später haben wir sowohl die dicke Taxifrau, als auch das Hotel bezahlt und stehen auf der Türschwelle zu unserer „Unterkunft“. Anna drückt skeptisch auf der Matratze herum.
„Das Ding ist hart wie Beton.“
„Achwas“, sage ich, „meine Matratze zu Hause ist auch recht hart. Sowas ist gut für den Rücken!“ Doch als ich mich hinlege werde ich eines besseren belehrt. Das Ding ist vermutlich für keines meiner Organe sonderlich gut. Ich denke mit blutendem Herzen an meine Matratze in Guanajuato zurück. Sogar die war vermutlich gemütlicher. Aber ich hatte schon ganz andere Strapazen erlebt.
Eine Stunde später schaue ich mit offenen Augen an die Decke. Anna schläft schon, doch trotz des langen Fluges kriege ich kein Auge zu.
Ich denke über die Reise nach, die vor mir liegt. Erst ging es nach Dubai, morgen nach Singapur und dann wollen wir durch Malaysia, Thailand und Laos nach Sepa in Vietnam reisen. Dann die vietnamesische Küste runter bis zum Mekong Delta, über den es dann nach Angkor in Kambodscha gehen soll. Von dort dann zurück nach Bangkok. Unserem Reiseziel.
Krass, was wir uns da vorgenommen haben. Eine Strecke von vielen tausend Kilometern und das nur mit dem Rucksack. Ein Traum. Zumindest glaube ich das bis zu diesem Moment noch und lächle glücklich in mich hinein. Es gibt doch nichts besseres als fremde Kulturen zu erkunden. Dass ein Albtraum vor mir liegt weiß ich ja noch nicht. Denn das Lächeln wird mir schon bald vergehen. Aber das dauert noch ein paar Tage.
Anna kenne ich noch nicht so gut. Ich habe sie auf einer Party vor einigen Monaten getroffen und nach kurzem Gespräch stellte sich unser gemeinsames Problem heraus. Niemand im sozialen Umfeld, der ebenfalls gerne mit dem Rucksack irgendwelche Schurkenstaaten bereist. Entweder fehlte die Zeit, die Lust oder das Geld. Doch wir hatten alles. Und schnell war unsere Reise geplant.
Ich hoffe die nächsten Stunden auf Schlaf, doch daraus wird nichts. Zu aufgeregt bin ich. Und erst um kurz nach fünf merke ich, wie ich langsam ruhiger werde und irgendeinen komischen Traum habe.
Und dann höre ich in der Ferne einen leisen Singsang: „Lā ilāha illā ʾllāh“…
Oh wie schön, jemand singt mich in den Schlaf, denke ich mir und kringle mich zufrieden auf der Steinmatratze zusammen.
„Muḥammadun rasūlu ʾllāhi…“ , die süßliche Stimme eines Muezzin, weit entfernt auf einem hohen Turm.
„Alīy walīyu ʾllāhiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiIIIII“…, jetzt wird es doch etwas nervig.
Und dann ging es plötzlich los. „LA ILAHA ILLA ILLA ILLA LAHAHAAAAA“.
Ich reiße verzweifelt die Augen auf. Direkt über mir zerfetzt der Muezzin die Stille als gäbe es keinen Morgen. Auch Anna scheint inzwischen wieder aufgewacht und bewegt sich. Doch nach dem ersten Schreck finde ich die Situation irgendwie sehr komisch und muss lachen. Gut dass Raschid Al Maktum das nicht weiß.
Die Katze
Am nächsten Morgen sieht alles ganz anders aus. Die Straßen sind voll von Menschen und abgesehen von der durchwachten Nacht bin ich ziemlich guter Dinge. Doch trotzdem werde ich kein Fan mehr von Dubai. Es ist staubig, trocken, laut und pompös hier. Eine Stadt, deren einziger Reichtum die arabischen Ölreserven sind. Doch weil die Rohstoffe langsam zur Neige gehen, versucht man im Finanzsektor eine neue Geldquelle zu erschließen. Wolkenkratzer renommierter Banken und anderer Finanzgesellschaften schießen wie Pilze aus dem Boden. Ich bin froh nicht lange Teil dieses Molochs zu sein und hake mit Anna die wichtigsten Sehenswürdigkeiten ab. In glühender Hitze.
Die Burj Khalifa, das höchste Gebäude der Welt, kostet über 100 Euro Eintritt pro Person. Einen Preis, den wir nur zahlen, weil wir aus Versehen mit marokkanischen Dirham rechnen.
Abends bin ich froh im Flugzeug nach Singpur zu sitzen. Dubai werde ich in diesem Leben nicht noch mal besuchen. Vermutlich nur für Menschen interessant, die außer Shoppen und Wellness nichts anderes im Sinn haben.
Singapur hingegen mag ich auf Anhieb. Ein Schmelztiegel der Kulturen. Aus jeder hat man sich hier zwei Feiertage genommen, die offiziell gelebt werden. Gerade ist das chinesische Neujahr zu Ende und wir werden Zeuge ausgefallener Dekorationen. Hier haben wir eine schöne Zeit und lernen uns besser kennen. Anna redet ununterbrochen, doch das macht mir nichts. Ich kann gut zuhören und finde ihre Geschichten irgendwie amüsant. Auch hat sie alle möglichen Aufgaben für mich, die ich in Windeseile versuche zu erfüllen: „Halt das mal, trag das mal, frag den mal, pack das mal in deinen Rucksack, guck mal da, wo geht es lang?, kann ich mal dein Handy haben?, ich muss das kaufen, ich brauche noch ein Souvenir, gib mir mal das aus deinem Rucksack, mach mal ein Foto von mir – nein nicht so – So!, …“ Doch das tue ich alles gerne. Schließlich bin ich froh nicht allein unterwegs zu sein.
Wir verbringen zwei Tage hier und ziehen dann weiter Richtung Kuala Lumpur, der Hauptstadt Malaysias. Und hier stimmt dann schon etwas nicht…
Es ist fünf Uhr früh als wir ankommen und unser Hostel ist noch geschlossen. Hinter uns erhebt sich ein monolithisches Gebäude, doch alles ist totenstill. Ich fühle mich wie in einer Geisterstadt.
Vor dem Hostel gibt es eine Sitzgelegenheit. Ich setze mich auf eine der Holzbänke und warte auf Anna. Doch die steht einfach wie angewurzelt da und starrt mich an.
„Was ist denn los?“ Sie gibt ein Geräusch von sich, was sich ein bisschen so anhört als würde ein Walross einen Traktor zu Welt bringen. Und dann sehe ich, was sie meint. Hinter mir haben sich fünf kleine Katzen versammelt. Keine davon älter als wenige Wochen.
„Wie goldig ist das denn? Ist ja der absolute Hammer!“, rufe ich und will eine der Katzen auf den Arm nehmen.
„FASS DIE NICHT AN!“ Annas Augen funkeln. Sie sieht noch immer schockiert aus. „FASS DIESE BIESTER BLOß NICHT AN.“
Ich bin etwas verdutzt. „Wieso nicht? Sind doch total süß, oder nicht?“
Anna ist wohl anderer Meinung und tritt nach einer der Katzenbabys, das den vergeblichen Versuch unternimmt sich an ihre Unterschenkel zu schmiegen.
„Die könnten Tollwut haben. Wir sind hier in einer fremden Kultur. Die könnten alles haben“, sagt sie. Ihre Miene verzieht sich als habe sie gerade an einem umgefallenen Glas Milch genippt. „Ich will hier nicht bleiben.“
Ich bin ehrlich gesagt ziemlich enttäuscht über ihren Ekel. Seit unser Kater Nelson tot ist, habe ich ziemlichen Katzenentzug und wann trifft man schon fünf kleine Katzenbabys? Doch will ich mich nicht mit Anna streiten und nehme selbst etwas Abstand zu meinen pelzigen Freunden.

Die nächsten zwei Stunden verbringe ich damit für Anna einen WLAN Hotspot zu suchen, damit sie unseren Tag planen kann. Es scheint ihr enorm wichtig jede Sekunde so effizient wie möglich auszunutzen. Schließlich will sie ja auch was bekommen für ihre Mühen. In dem Hostel mit den Tollwutkatzen kommen wir schließlich auch unter und schauen uns Kuala Lumpur an. Hier gibt es eine riesige Buddhastatue mit einigen Tempeln. Doch am meisten freue ich mich auf den Orchideen Park, der einer der prachtvollsten der Welt sein soll. Anna scheint hier allerdings von Minute zu Minute unglücklicher zu sein. Ich frage mich, was genau mit ihr los ist. Hat sie immer noch Angst ich könnte sie mit Tollwut anstecken? Oder verbirgt sich mehr dahinter?
Im Orchideenpark zockelt sie nur noch langsam hinter mir her und redet auch nichts mehr. Das ist eigentlich ganz angenehm, denn die letzten Tage hat sie einen Monolog geführt, dem zu folgen nicht immer einfach war.
„Ok, was ist denn los?“, frage ich als wir an einer ruhigen Stelle ankommen.
„Ja, wir sollten uns mal unterhalten“, sagt Anna und scheint sich innerlich auf irgendwas vorzubereiten.
Ich setze mich mit ihr auf eine Bank und schaue sie erwartungsvoll an. „Ok?“
„Also“, sagt sie, „mich stören so einige Dinge an dir.“
„Mhh, ich habe mir eigentlich die letzten Tage wirklich Mühe gegeben so zu sein, wie du es erwartest. Was genau stört Dich denn?“
Anna erklärt mir, dass sie das selbst nicht so richtig weiß. Es seien jedenfalls nicht nur zwei oder drei Dinge, sondern Hunderte, die sie alle ziemlich schlecht an mir findet.
„Ja, nenne mir doch mal ein Beispiel.“
Anna erklärt ich würde immer alles im Alleingang machen wollen. Würde einfach irgendwohin laufen ohne sie vorher zu fragen und selbst immer bestimmen wollen wo es lang geht. Aber das sei nur eine von vielen Dingen, die sie aber nicht sagen wolle. Und das alles sei ihr schon von Anfang an aufgefallen. Sie habe es nur schweigend ertragen.
Ich denke eine Weile nach. Doch auch wenn ich mich frage, wie ich es schaffen soll hunderte von Dingen zu ändern, entschuldige ich mich und verspreche mir Mühe zu geben mich zu ändern. Vielleicht hat sie ja Recht.
Anna gefällt das und wir verstehen uns den Rest der Zeit wieder besser. Ok, denke ich abends im Bett erleichtert, vielleicht haben wir nur einen schlechten Tag gehabt und ab jetzt läuft es besser.
Ich sollte mich erheblich irren.
Das Aquarium
Am nächsten Tag geht es nach Teman Negara. Ein Nationalpark mitten im Dschungel, den man nur über einen schmalen Fluss mit dem Boot erreichen kann. Darauf habe ich mich schon lange gefreut.
Wir verbringen einen Tag hier und gehen im Dschungel wandern. Doch so richtig Freude kommt dabei nicht auf, denn Anna ist wohl inzwischen wieder eingefallen, was sie alles nervt, sodass ich mir alle fünfzehn Minuten ihre Meinung zu einer meiner Handlungen anhören darf.
„Du darfst keine Blätter anfassen, die könnten giftig sein und dann bleibe ich allein im Dschungel zurück.“, „Selfies zu machen finde ich dumm, denn dann sieht man ja nur sich selbst und nicht die Landschaft“, „Du kannst echt nicht richtig laufen. Ständig habe ich Angst du knickst um und dann müssen wir den ADAC rufen.“, „Ich finde es dumm, dass du eine kurze Hose anhast. Wenn du Dengue Fiber bekommst, kannst du schauen wie du alleine zurecht kommst.“, „Musst du etwa schon wieder aufs Klo?“
Ich versuche ruhig zu bleiben und sage nur selten was dazu. Es scheint ihr egal zu sein, wie viele Wochen meines Lebens ich schon im Dschungel verbracht habe.
Früh am nächsten Morgen geht es mit dem Speedboat zurück in die Zivilisation. Es ist drückend heiß und ich trinke einen halben Liter Wasser bevor es losgeht. Schließlich kann ich für drei Stunden nichts Neues bekommen. Das Boot nimmt Fahrt auf und schmutziges Wasser wird zu beiden Seiten aufgepeitscht. Die Sonne brennt mir auf der Haut. Ich liebe die Tropen.
Anna hat sich neben mir hingelegt und will wohl etwas schlafen. Das ist gut, denn dann habe ich endlich mal drei herrliche Stunden ohne Moralpredigt. Ich lausche dem Motorengeräusch und sehe wie das immergrüne Ufer an mir vorbeizieht. Und dann fühle ich mich irgendwie unwohl.
Oh man, denke ich, ich hätte nicht gleich die ganze Flasche Wasser leer trinken sollen. Jetzt kann ich erst in mehr als zwei Stunden wieder aufs Klo. Aber gut, so schlimm würde das schon nicht werden. Ich höre etwas Musik mit meinem Handy um mich von meinem kleinen Problem abzulenken. Das hilft!
Für 20 Minuten jedenfalls. Dann spüre ich schon merklich intensiver das Unvermeidliche. Ich muss dringend pinkeln.
Normalerweise wäre das ja kein Problem. Denn normalerweise würde ich den Typen von dem Boot einfach fragen, ob er mal kurz rechts ans Ufer fährt. Doch dann würde Anna neben mir wach und sich mal wieder total aufregen. Und einen erneuten Grund mir irgendwelche Manieren beibringen zu wollen, will ich ihr einfach nicht liefern. Ich muss es also wohl oder übel aushalten.
Doch schon eine viertel Stunde später tut es richtig weh und ich muss die Zähne zusammen beißen, damit hier kein Unfall passiert. Mein ganzer Unterleib fühlt sich so an wie ein Aquarium. Ohne Fische, doch mit viel zu vielen defekten Pumpen, die ununterbrochen neues Wasser heranschaffen. Doch genau wie es bei Sheldon Cooper nicht klappt ‚Gebieter über die eigene Blase‘ zu sein, so gestehe ich mir langsam ein, wie unmöglich es für mich ist noch eine weitere Stunde zu warten.
Das Boot klatscht alle paar Sekunden auf die harte Wasseroberfläche und jedes Mal zuckt mir ein beißender Schmerz durch Mark und Knochen. So muss sich eine Harnwegsinfektion anfühlen. Ok, Anna hin oder her, jetzt muss ich da was machen!
Schnell gestehe ich dem Bootsführer mein Problem und er nickt. Wir legen an und erleichtert sehe ich noch einen anderen Typen mit mir aus dem Boot steigen. Ich bin also nicht der einzige. So vorsichtig wie möglich navigiere ich mich in eine nicht allzu demütigende Position und erlebe die glücklichsten zwanzig Sekunden meines Lebens. Doch meine Freude soll nur von kurzer Dauer sein, denn Anna wartet schon voller Entrüstung auf mich. Als ich mich erleichtert neben ihr fallen lasse, kann ich ihr Augenrollen förmlich hören.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, David, oder? Ich habe echt den Eindruck ich sei hier mit einem kleinen Jungen unterwegs, der sich nicht benehmen kann. Nicht mal drei Stunden Bootsfahrt kannst du aushalten ohne pinkeln zu müssen, von einem Mann erwarte ich… „, doch da höre ich gar nicht mehr zu, sondern sehe im Augenwinkel nur noch wie sich ihr Kiefer hoch und runter bewegt. Ich höre schon wieder Musik. Naja, das war es auf jeden Fall Wert.
Später an Land sagt sie es sei ihr enorm peinlich mit mir unterwegs zu sein.
„Als du aus dem Boot gestiegen bist, hat das so gewackelt, die Leute wurden ganz panisch. So etwas geht einfach nicht. Ich finde es einfach schrecklich mit dir zu reisen.“
Doch ich habe inzwischen aufgegeben irgendwelche Gegenargumente zu suchen, denn wenn jemand gerade von einer mehrtägigen Dschungeltour kommt, wird er wohl nicht allzu große Probleme mit einem schwankenden Boot haben. Ich schlage ihr vor wie es wäre, wenn wir uns einfach trennten. Es klappt schließlich einfach nicht so mit uns.
Doch sie hat Angst alleine zu reisen. Panische Angst sogar.
„Ja, dann musst du jetzt aufhören an allem was ich tue rumzunörgeln. Sonst reise ich nämlich alleine weiter ob du das willst oder nicht. Ich bin hier ja nicht dein Lila Launebär!“
Plötzlich weicht alle Aggression aus Annas Gesicht. Von jetzt auf gleich ist sie plötzlich versöhnlich und mimt das ängstliche Mädchen.
„Aber du würdest mich doch nicht hier alleine lassen, oder?“
Ich bin positiv überrascht über diesen Gemütswechsel.
„Nein, keine Sorge“, sage ich gönnerhaft, „wenn Du da solche Angst vor hast, natürlich nicht.“
Doch das war gelogen.
Ich wusste nur zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie sehr es noch eskalieren würde.
Der Salamander
Es geht weiter in den Norden Malaysias. Hoch in den Bergen warten die Cameron Highlands auf uns. Bekannt für ihre nicht enden wollenden Teeplantagen und Erdbeerfelder. Ein tolles Ziel.
Hier wird mir klar wie sehr asiatische Menschen auf Selfies mit Europäern stehen. Wir treffen eine Schulklasse und alle sind ganz versessen darauf Fotos mit uns zu machen. Es interessiert sie nicht, wo wir her kommen oder wieso wir hier sind. Sie möchten nur ein Bild mit einem bildhübschen blonden Mädchen und einem europäischen Kerl. Nach etwas über dreißig Minuten sind wir etwas genervt von der ganzen Sache und Anna winkt verzweifelt dem Lehrer der Klasse zu. Dieser wird seine Sprösslinge schon wieder einfangen. Doch statt uns aus der Traube von Schülern zu befreien, kommt sogar der angelaufen und möchte ein Bild mit Anna haben. Ziemlich amüsiert darüber fahren wir mit einem deformierten Bus zurück in unser Hostel. Das war ein guter Tag und irgendwie habe ich Anna auch wieder in mein Herz geschlossen. Vielleicht hat sie mit einigen ihrer Kritiken ja sogar recht.

Es geht weiter nach Georgetown. Eine Stadt auf der Insel Penang. Ich habe inzwischen viel über die Kultur hier gelernt. Zahlen wie vier, dreizehn oder vierzehn sind hier beispielsweise gottlos und bringen Unheil. Das liegt daran, weil das englische Wort „four“, sich genauso anhört wie das Wort „Tod“ im Mandarin. Und dass die Dreizehn eine böse Zahl ist, das weiß ja wohl inzwischen jeder. 😉
Zudem lernen wir durch den Kontakt mit Menschen die Kultur etwas kennen. Während in Singapur noch jede Weltreligion vertreten war, ist Malaysia zu großen Teilen muslimisch geprägt. Doch je weiter man sich Thailand nähert, desto mehr Hindutempel finden sich.
Sowohl Buddhismus als auch Hinduismus haben auf mich in Europa immer eine diffuse Anziehungskraft ausgeübt. Doch seit ich hier bin, kann ich keine der Religionen noch ernst nehmen. Die Tempel sind kitschig, ihre Götter sehen aus wie die Figuren eines geschmacklosen Puppentheaters, und die Opfer haben irgendwie etwas Saloppes.
Man opfert Coca Cola, Snickers, Kekse, Wasser und sogar Geld wird auf offener Straße verbrannt. Eine Kultur, die der aufgeklärte, europäische Geist nicht verstehen kann. Es ist interessant diese Welt einmal ohne den Filter der Medien zu betrachten.

In Georgetown angekommen habe ich von Anna den Auftrag bekommen unser Hostel zu finden. Ich möchte dafür die Fußgängernavigation nutzen, doch Anna findet das „dumm“.
„Ich verwende nie Navigation“, sagt sie, „das ist was für Trottel, die keinen Orientierungssinn haben.“
Ich habe keine Lust mich erneut mit ihr zu streiten und versuche es einfach ohne. Doch leider ist der Bereich meines Gehirns, der für „Orientierung in einer lauten Stadt“ verantwortlich ist, wohl in den letzten Jahren, zu einer kümmerlichen Rosine geschrumpelt. Willkommen digitale Demenz!
Nachdem wir offensichtlich zu weit gelaufen sind und Anna zum fünften Mal erwähnt wie müde sie ist, drücke ich ihr mein Handy mit der Karte in die Hand.
„Hier! Mach Du doch.“
Sie schaut mich an als habe sie gerade etwas ziemlich Saures verschluckt.
„Bist du jetzt etwa schon wieder angepisst?“
Ich nicke. Natürlich bin ich angepisst, wenn ich was machen soll wozu ich nicht in der Lage bin. Ich habe schon seit ich klein bin den Orientierungssinn eines Bügeleisens.
Sie nimmt das Handy und versucht es selbst.
„Also ich finde Menschen, die angepisst sind dumm. Angepisst zu sein bringt einen nicht weiter.“
Ich beiße die Zähne zusammen, und sage nichts mehr dazu. Es geht also schon wieder los.
Einige Zeit später finden wir, eher per Zufall, unser Hostel und buchen uns ein. Zu meiner großen Erleichterung ist auch Anna mit unserem Zimmer zufrieden. Es gibt sogar eine Klimaanlage.
Ich will gerade erwähnen, wie sehr ich mir wünsche mal alleine zu sein, als sie mit dem Finger auf etwas an der Wand deutet. Ein winziger Salamander sitzt ganz oben unter der Decke.
„Ja und?“, frage ich und öffne den Reißverschluss meines Rucksacks, aus dem jetzt alle möglichen Utensilien gequollen kommen.
Anna starrt mich an, als sei ich schwer von Begriff.
„Mit dem Vieh da an der Decke schlafe ich gewiss nicht hier.“
„Aha, ich finde ihn eigentlich ganz niedlich. Du kannst ihn ja rausscheuchen“, sage ich und unterziehe einige meiner Socken einem Frischetest.
Doch Anna bewegt sich nicht von der Stelle.
„Du findest auch alle Tiere niedlich! Ich finde den unhygienisch, also mach ihn weg.“
Ich unterbreche die Inspektion meines Inventars und seufze: „Ok, ich versuch’s mal.“
Als ich mich auf das antiquierte Bett stelle knatscht dieses, wie ein alter Rüde dem man gerade auf den Schwanz getreten ist. Ich klopfe mit einem Kleiderbügel vorsichtig an die Wand um die Echse aufzuscheuchen. Doch das klappt leider zu gut und das Tier flitzt an die Decke über dem Kleiderschrank. Außer Reichweite.
„Toll gemacht. Jetzt bekommen wir die nie“, trötet Anna und beobachtet, wie ich auf der Matratze balancierend Richtung Schrank watschle. Den Kleiderbügel im Anschlag.
Vermutlich wäre ich mir schon ohne ihre Worte wie der letzte Depp dabei vorgekommen, aber irgendwie ist jetzt mein Jagdinstinkt geweckt. Anna reicht mir ein Glas und ich unternehme den vergeblichen Versuch es über das Tier zu stülpen. Es huscht viel zu schnell die Wand hinunter.
Erleichtert steige ich vom Bett. Jetzt muss das Vieh irgendwo hinter der Matratze lauern. Ich rücke vorsichtig das Bettgestell nach vorne, während Anna abschätzend daneben steht.
Doch obwohl ich mir so sicher war mein Opfer auf dem Boden zu finden, erblicken wir nur die leeren Bodendielen. Naja, vielleicht hatte er sich ja im Bett eingenistet. Ich ziehe es noch etwas weiter nach vorne und hebe die ganze Matratze aus dem Gestell. Dabei wird der Staub der letzten Wochen aufgewirbelt. Eine für Anna unzumutbare Belastung.
Doch trotz aller Strapazen ist von dem Salamander keine Spur.
„Du hättest mal besser hinschauen sollen. Ist das wirklich so schwer?“, fragt Anna theatralisch und sieht mich an, als habe ich gerade einen ihrer engsten Angehörigen überfahren.
Ich merke inzwischen wie ich von Sekunde zu Sekunde wütender werde. Die Aktion einen Salamander zu fangen und zu suchen, wäre mit jedem meiner näheren Bekannten vermutlich ein sehr lustiges Unterfangen gewesen. Mit Anna war es eine größere Cortisolparty als eine Klausur in theoretischer Informatik.
„Weißt Du was“, sage ich, „ich habe keine Lust mehr Deinen blöden Salamander zu jagen. Mich stört er nicht und ich will jetzt endlich mal alleine sein.“ Ich versuche so böse wie möglich zu klingen, doch irgendwie habe ich darin so wenig Übung.
Und jetzt geht Anna hoch. Sie explodiert förmlich, wie eine Frau, die mit einem defekten Metalldetektor ein Minenfeld betritt.
„Jetzt sei doch nicht schon wieder angepisst. Wegen jeder Kleinigkeit bist du ANGEPISST. Haben deine Eltern dir nicht beigebracht, wie man sich richtig und respektvoll anderen Menschen gegenüber benimmt? Hast du gar keine Manieren gelernt? Ich habe hier den Eindruck mit einem sechsjährigen meinen Urlaub zu verbringen. ICH HASSE DAS…! So etwas Unreifes habe ich noch niemals erlebt. Noch niemals! …“
Ich darf mir erneut eines ihrer endlosen Pamphlete zu Moral und Benehmen anhören und frage mich innerlich, wie es mit uns weiter gehen soll. Als sie fertig ist nehme ich eines meiner verstaubten T-Shirts vom Bett und schwenke es wild durch die Luft.
„So, ich habe jetzt keine Lust darüber zu reden. Ich gehe jetzt alleine weg!“
Ich wechsel mein T-Shirt und verlasse das Zimmer. Wenn ich noch eine weitere Minute mit Anna verbringen muss, ist wieder ein ganzer Tag versaut. Doch leider ist sie von ihrer Predigt nicht so aus der Puste, wie ich gehofft hatte und folgt mir.
„David, das war jetzt aber auch eine echt doofe Situation mit der Echse. Wer will denn gleich so sauer werden?“, fragt sie. Und plötzlich ist sie wieder das ängstliche Mädchen. „Ich möchte nicht alleine sein. Ich will die Stadt nicht alleine sehen. Lass uns irgendwohin gehen und darüber reden.“ Ihre Stimme klingt dabei so süß wie Honig.
Und weil ich irgendwie mit ihr klar kommen muss, gehe ich auf den Vorschlag ein und wir machen uns auf den Weg zu einem Park. Hier haben wir die Hoffnung durch eine rationale Auseinandersetzung eine Lösung für unser Problem zu finden.
Beim Park angekommen bin ich schon längst nicht mehr so sauer auf sie, wie ich es gerne wäre und kaufe einen Becher Wassermelone für uns. Quasi zur Versöhnung. Vielleicht lässt sich dieser Urlaub ja doch noch retten.
Anna setzt sich auf einen Stein mir gegenüber.
„David weißt du, was mir auch noch aufgefallen ist?“
Ich schüttle den Kopf. „Nee“
Sie schluckt ein Stück Wassermelone hinunter und sagt dann: „Ich glaube was mich auch teilweise so rasend macht ist die Tatsache, dass du mich immer so umgarnst. Ich habe ständig den Eindruck du wolltest mich anbaggern.“
Als ihre Worte in meinem Neokortex eintreffen, bleibt mir ein großes Stück Melone im Hals stecken. Ich versuche es heraus zu prusten und der Boden unter mir wird mit vielen kleinen roten Flocken übersät.
„Wie bitte? Du glaubst ich wollte Dich Deinem Freund ausspannen?“
Doch Anna scheint das als unumstößliche Tatsache festgestellt zu haben und redet munter weiter. „Ja, du versuchst immer mich zu beeindrucken und machst mir alles so recht. Es ist ganz merkwürdig, obwohl du ja genau von meiner Beziehung weißt.“
Ich versuche zu verarbeiten, was Anna da gerade behauptet hat, doch komme ich jetzt einfach nicht weiter. Zugegebenermaßen war sie eine schöne Frau und ich war ja auch nicht blind. Doch durch ihre laszive Art hatte ich eher den Eindruck sie lege es darauf an die Aufmerksamkeit irgendwelcher Männer zu erregen. Doch trotz alldem war sie einfach nicht mein Typ.
„Anna“, versuche ich zu erklären, „vermutlich wird der Durchschnittstyp dich als attraktiv einstufen, doch wenn ich ehrlich bin, stehe ich eher auf südländische Frauen. Meine erste Freundin war Latina, und meine zweite kommt aus Haiti. Du bist wirklich ganz weit entfernt von meinem Jagdschema und da kannst du jeden fragen. Aber ich werde mir natürlich Mühe geben in Zukunft so wenige Pheromone wie möglich in deine Richtung zu versprühen, falls dir das hilft.“
Ich habe etwas Angst jetzt schon wieder was Falsches gesagt zu haben, doch Anna scheint zunächst zufrieden. Während sie damit beginnt einen Monolog über ihre künstlerischen Träume abzuhalten, denke ich über die vergangene Woche nach. Hatte ich wirklich unterbewusst irgendwelche Versuche unternommen bei ihr zu landen? Wenn das so war, so konnte es nur in den ersten drei Tagen geschehen sein, denn danach konnte ich sie nicht mal mehr leiden. Doch abgesehen davon, dass ich mir echte Mühe gegeben habe ein guter Reisebegleiter zu sein, fällt mir nichts ein. Aber glücklicherweise waren ihre Ausbrüche, wie ein Strohfeuer. Kurz, intensiv und schnell vorüber. Das gab mir Hoffnung diesen Urlaub noch einigermaßen genießen zu können.
Da hatte ich mich geirrt.